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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Ganzen vollendet und schön zu erscheinen; da gilt es, mit dem Natur-
geiste zu ringen, nicht in schlaffem und weichlichem, sondern in starkem
und muthigem Kampf; anhaltende Uebung der Erkenntniß desjenigen, wo-
durch das Eigenthümliche der Dinge ein Positives ist, muß ihn vor Leerheit,
Weichheit, innerer Nichtigkeit bewahren, eh er es wagen darf, durch im-
mer höhere Verbindung und endliche Verschmelzung mannigfaltiger For-
men die äußerste Schönheit in Bildungen von höchster Einfalt bei unend-
lichem Inhalt erreichen zu wollen; nur durch die Vollendung der
Form kann die Form vernichtet werden
; die schnell erlangte äu-
ßere Harmonie ist innerlich nichtig; Lehre und Unterricht haben der geist-
losen Nachahmung schöner Formen, der Neigung zu einer verzärtelten,
charakterlosen Kunst entgegenzuwirken; jene erhabene Schönheit, wo die
Fülle der Form die Form selbst aufhebt, ist (nach Winkelmanns Wort
vom geschmacklosen Wasser) allerdings charakterlos, aber sie ist es, wie
wir sagen, daß das Weltall keine bestimmte Abmessung habe, weil es alle
in gleicher Unendlichkeit enthält, oder daß die Kunst der schöpferischen
Natur formlos sei, weil sie selbst keiner Form unterworfen ist; die Ver-
einigung der höchsten Fülle von Formen mußte in den griechischen Bil-
dern der vollkommensten oder göttlichen Naturen von der Art sein, daß
die niedrigeren Eigenschaften unter höhere und alle zuletzt unter Eine
höchste aufgenommen wurden, in der sie sich zwar als besondere gegen-
seitig auslöschten, dem Wesen und der Kraft nach aber bestanden, so daß
das Charakteristische in der hohen und selbstgenügsamen Schönheit den-
noch ununterscheidbar fortwirkte, wie im Krystall, ist er gleich durchsichtig,
die Textur nichts destoweniger besteht: jedes charakteristische Element wiegt,
wenn auch noch so sanft, mit und hilft die erhabene Gleichgültigkeit der
Schönheit bewirken; charakteristische Schönheit ist die Schönheit in ihrer
Wurzel, aus welcher dann erst die Schönheit als Frucht sich erheben
kann; das Wesen überwächst wohl die Form, aber auch dann bleibt die
Form als das Charakteristische die noch immer wirksame Grundlage des
Schönen. Dann unterscheidet er aber verschiedene Künste und gibt der
Malerei den weiteren Spielraum zu.

Von der Thierdarstellung ist noch zu sagen, daß hier an die
Stelle der menschlichen Charaktertypen, wie sie in individueller Bestimmt-
heit ein sittliches Pathos vertreten, verschiedene Thiergattungen mit den
Unterschieden der Alter, Geschlechter, der Affecte und Thätigkeiten treten.
Das allgemein Ideale, was in der Menschenbildung die Härte der Be-
stimmtheit auflöst, ist hier der Ausdruck der organischen Naturkraft über-
haupt, die sich mit ihrer Wellenbildung über alle Schroffheit der beson-
dern Thierbildung hinlegt, in der Sättigung und Rundung der Form
jede an den mütterlichen Schooß des Naturganzen hinüberleitet und jene

Ganzen vollendet und ſchön zu erſcheinen; da gilt es, mit dem Natur-
geiſte zu ringen, nicht in ſchlaffem und weichlichem, ſondern in ſtarkem
und muthigem Kampf; anhaltende Uebung der Erkenntniß desjenigen, wo-
durch das Eigenthümliche der Dinge ein Poſitives iſt, muß ihn vor Leerheit,
Weichheit, innerer Nichtigkeit bewahren, eh er es wagen darf, durch im-
mer höhere Verbindung und endliche Verſchmelzung mannigfaltiger For-
men die äußerſte Schönheit in Bildungen von höchſter Einfalt bei unend-
lichem Inhalt erreichen zu wollen; nur durch die Vollendung der
Form kann die Form vernichtet werden
; die ſchnell erlangte äu-
ßere Harmonie iſt innerlich nichtig; Lehre und Unterricht haben der geiſt-
loſen Nachahmung ſchöner Formen, der Neigung zu einer verzärtelten,
charakterloſen Kunſt entgegenzuwirken; jene erhabene Schönheit, wo die
Fülle der Form die Form ſelbſt aufhebt, iſt (nach Winkelmanns Wort
vom geſchmackloſen Waſſer) allerdings charakterlos, aber ſie iſt es, wie
wir ſagen, daß das Weltall keine beſtimmte Abmeſſung habe, weil es alle
in gleicher Unendlichkeit enthält, oder daß die Kunſt der ſchöpferiſchen
Natur formlos ſei, weil ſie ſelbſt keiner Form unterworfen iſt; die Ver-
einigung der höchſten Fülle von Formen mußte in den griechiſchen Bil-
dern der vollkommenſten oder göttlichen Naturen von der Art ſein, daß
die niedrigeren Eigenſchaften unter höhere und alle zuletzt unter Eine
höchſte aufgenommen wurden, in der ſie ſich zwar als beſondere gegen-
ſeitig auslöſchten, dem Weſen und der Kraft nach aber beſtanden, ſo daß
das Charakteriſtiſche in der hohen und ſelbſtgenügſamen Schönheit den-
noch ununterſcheidbar fortwirkte, wie im Kryſtall, iſt er gleich durchſichtig,
die Textur nichts deſtoweniger beſteht: jedes charakteriſtiſche Element wiegt,
wenn auch noch ſo ſanft, mit und hilft die erhabene Gleichgültigkeit der
Schönheit bewirken; charakteriſtiſche Schönheit iſt die Schönheit in ihrer
Wurzel, aus welcher dann erſt die Schönheit als Frucht ſich erheben
kann; das Weſen überwächst wohl die Form, aber auch dann bleibt die
Form als das Charakteriſtiſche die noch immer wirkſame Grundlage des
Schönen. Dann unterſcheidet er aber verſchiedene Künſte und gibt der
Malerei den weiteren Spielraum zu.

Von der Thierdarſtellung iſt noch zu ſagen, daß hier an die
Stelle der menſchlichen Charaktertypen, wie ſie in individueller Beſtimmt-
heit ein ſittliches Pathos vertreten, verſchiedene Thiergattungen mit den
Unterſchieden der Alter, Geſchlechter, der Affecte und Thätigkeiten treten.
Das allgemein Ideale, was in der Menſchenbildung die Härte der Be-
ſtimmtheit auflöst, iſt hier der Ausdruck der organiſchen Naturkraft über-
haupt, die ſich mit ihrer Wellenbildung über alle Schroffheit der beſon-
dern Thierbildung hinlegt, in der Sättigung und Rundung der Form
jede an den mütterlichen Schooß des Naturganzen hinüberleitet und jene

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[443/0117] Ganzen vollendet und ſchön zu erſcheinen; da gilt es, mit dem Natur- geiſte zu ringen, nicht in ſchlaffem und weichlichem, ſondern in ſtarkem und muthigem Kampf; anhaltende Uebung der Erkenntniß desjenigen, wo- durch das Eigenthümliche der Dinge ein Poſitives iſt, muß ihn vor Leerheit, Weichheit, innerer Nichtigkeit bewahren, eh er es wagen darf, durch im- mer höhere Verbindung und endliche Verſchmelzung mannigfaltiger For- men die äußerſte Schönheit in Bildungen von höchſter Einfalt bei unend- lichem Inhalt erreichen zu wollen; nur durch die Vollendung der Form kann die Form vernichtet werden; die ſchnell erlangte äu- ßere Harmonie iſt innerlich nichtig; Lehre und Unterricht haben der geiſt- loſen Nachahmung ſchöner Formen, der Neigung zu einer verzärtelten, charakterloſen Kunſt entgegenzuwirken; jene erhabene Schönheit, wo die Fülle der Form die Form ſelbſt aufhebt, iſt (nach Winkelmanns Wort vom geſchmackloſen Waſſer) allerdings charakterlos, aber ſie iſt es, wie wir ſagen, daß das Weltall keine beſtimmte Abmeſſung habe, weil es alle in gleicher Unendlichkeit enthält, oder daß die Kunſt der ſchöpferiſchen Natur formlos ſei, weil ſie ſelbſt keiner Form unterworfen iſt; die Ver- einigung der höchſten Fülle von Formen mußte in den griechiſchen Bil- dern der vollkommenſten oder göttlichen Naturen von der Art ſein, daß die niedrigeren Eigenſchaften unter höhere und alle zuletzt unter Eine höchſte aufgenommen wurden, in der ſie ſich zwar als beſondere gegen- ſeitig auslöſchten, dem Weſen und der Kraft nach aber beſtanden, ſo daß das Charakteriſtiſche in der hohen und ſelbſtgenügſamen Schönheit den- noch ununterſcheidbar fortwirkte, wie im Kryſtall, iſt er gleich durchſichtig, die Textur nichts deſtoweniger beſteht: jedes charakteriſtiſche Element wiegt, wenn auch noch ſo ſanft, mit und hilft die erhabene Gleichgültigkeit der Schönheit bewirken; charakteriſtiſche Schönheit iſt die Schönheit in ihrer Wurzel, aus welcher dann erſt die Schönheit als Frucht ſich erheben kann; das Weſen überwächst wohl die Form, aber auch dann bleibt die Form als das Charakteriſtiſche die noch immer wirkſame Grundlage des Schönen. Dann unterſcheidet er aber verſchiedene Künſte und gibt der Malerei den weiteren Spielraum zu. Von der Thierdarſtellung iſt noch zu ſagen, daß hier an die Stelle der menſchlichen Charaktertypen, wie ſie in individueller Beſtimmt- heit ein ſittliches Pathos vertreten, verſchiedene Thiergattungen mit den Unterſchieden der Alter, Geſchlechter, der Affecte und Thätigkeiten treten. Das allgemein Ideale, was in der Menſchenbildung die Härte der Be- ſtimmtheit auflöst, iſt hier der Ausdruck der organiſchen Naturkraft über- haupt, die ſich mit ihrer Wellenbildung über alle Schroffheit der beſon- dern Thierbildung hinlegt, in der Sättigung und Rundung der Form jede an den mütterlichen Schooß des Naturganzen hinüberleitet und jene

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/117>, abgerufen am 26.04.2024.