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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Entfaltung des Furchtbaren und Komischen, einer Eckigkeit der Formen, das
Malerische der Composition in perspectivischer Behandlung des Relief mit einer
Bestimmtheit herrscht, welche auf den ersten Blick als bloße Manier und Ver-
irrung erscheint. Allein nicht nur erhält sich auch jetzt noch ein Rest statuari-
scher Würde und Gediegenheit, sondern die ganze Kunstgattung verzichtet durch
die Art ihres Anschlusses an die Baukunst auf Selbständigkeit, ergänzt diese
in einem dichterischen Cyklus und bedeckt die harte Wahrheit ihrer Formen
durch völlige durchgeführte Polychromie, mit welcher die ornamentistische Hal-
tung des Ganzen wieder versöhnt.

Der neue Styl tritt zuerst in Flandern, hier bereits im vierzehnten
Jahrhundert, auf und ist ohne Zweifel von hier in Deutschland einge-
drungen. Das bunte Altarschnitzwerk wurde niederländische Arbeit genannt
(vergl. Gesch. der deutsch. Kunst v. E. Förster Th. 2, S. 17). Dieser Styl könnte
als gothisch bezeichnet werden, weil man bei dem Gothischen doch vorzüg-
lich an das nordisch Eckige, stachlicht Individualisirte zu denken gewohnt
ist. Wir haben uns bereits dagegen erklärt, daß er als Abfall vom Ideal
aufgefaßt werde. Der Zug des Mittelalters war ein anderer, als der
des Alterthums; was im Zusammenhang antiken Entwicklungsganges Fall
war, ist im Mittelalter Steigen. Freilich setzt dieß eine andere Kunst-
gattung als das Bett voraus, worin das wesentlich verschiedene Ideal des
Mittelalters seine Höhe erreicht: die Malerei; aber überall reißt die vorzüglich
herrschende, das Ideal einer Zeit aussprechende Kunst die andern Künste
mit sich fort und in die Scharte, die dadurch den aus ihrem Wesen flie-
ßenden Stylformen geschlagen wird, dringt versöhnend und entschädigend
eben jener Zug des Ganzen mit seiner hohen Berechtigung. In Grie-
chenland konnte die Malerei und Poesie neben dem herrschenden Zuge
zu plastischer Idealität keineswegs den Styl entwickeln, in welchem sich
erst die Fülle des Wesens dieser Künste zeigt, aber wir bewundern sie
doch, weil wir vom plastischen Grundgefühle fortgerissen die Mängel der
Entwicklung mit der Vollkommenheit der plastischen Kunst durch eine Ue-
bertragung decken. Das mild Schöne des anmuthigen romanisch-germa-
nischen Styls ist übrigens in diesem herben Style nicht geradezu ver-
schwunden; wir erinnern nur an Ein Beispiel, die herrliche betende Ma-
ria der Kunstschule zu Nürnberg, wo selbst der weiche Faltenfluß nicht
fehlt. Auch in Christusbildern dringen vereinzelt wieder ideale Bildun-
gen durch, im Ganzen aber herrschen grobe nordische Körper- und Ge-
sichtsformen, eckige Bewegungen und Falten, die Trachten der Zeit tre-
ten rücksichtslos neben den idealen Gewändern der höheren Typen auf,
der Künstler greift nach den härtesten Zügen individueller Eigenheit, durch-
wandelt unplastisch den Himmel und die Hölle der Affectenwelt des christ-

Entfaltung des Furchtbaren und Komiſchen, einer Eckigkeit der Formen, das
Maleriſche der Compoſition in perſpectiviſcher Behandlung des Relief mit einer
Beſtimmtheit herrſcht, welche auf den erſten Blick als bloße Manier und Ver-
irrung erſcheint. Allein nicht nur erhält ſich auch jetzt noch ein Reſt ſtatuari-
ſcher Würde und Gediegenheit, ſondern die ganze Kunſtgattung verzichtet durch
die Art ihres Anſchluſſes an die Baukunſt auf Selbſtändigkeit, ergänzt dieſe
in einem dichteriſchen Cyklus und bedeckt die harte Wahrheit ihrer Formen
durch völlige durchgeführte Polychromie, mit welcher die ornamentiſtiſche Hal-
tung des Ganzen wieder verſöhnt.

Der neue Styl tritt zuerſt in Flandern, hier bereits im vierzehnten
Jahrhundert, auf und iſt ohne Zweifel von hier in Deutſchland einge-
drungen. Das bunte Altarſchnitzwerk wurde niederländiſche Arbeit genannt
(vergl. Geſch. der deutſch. Kunſt v. E. Förſter Th. 2, S. 17). Dieſer Styl könnte
als gothiſch bezeichnet werden, weil man bei dem Gothiſchen doch vorzüg-
lich an das nordiſch Eckige, ſtachlicht Individualiſirte zu denken gewohnt
iſt. Wir haben uns bereits dagegen erklärt, daß er als Abfall vom Ideal
aufgefaßt werde. Der Zug des Mittelalters war ein anderer, als der
des Alterthums; was im Zuſammenhang antiken Entwicklungsganges Fall
war, iſt im Mittelalter Steigen. Freilich ſetzt dieß eine andere Kunſt-
gattung als das Bett voraus, worin das weſentlich verſchiedene Ideal des
Mittelalters ſeine Höhe erreicht: die Malerei; aber überall reißt die vorzüglich
herrſchende, das Ideal einer Zeit ausſprechende Kunſt die andern Künſte
mit ſich fort und in die Scharte, die dadurch den aus ihrem Weſen flie-
ßenden Stylformen geſchlagen wird, dringt verſöhnend und entſchädigend
eben jener Zug des Ganzen mit ſeiner hohen Berechtigung. In Grie-
chenland konnte die Malerei und Poeſie neben dem herrſchenden Zuge
zu plaſtiſcher Idealität keineswegs den Styl entwickeln, in welchem ſich
erſt die Fülle des Weſens dieſer Künſte zeigt, aber wir bewundern ſie
doch, weil wir vom plaſtiſchen Grundgefühle fortgeriſſen die Mängel der
Entwicklung mit der Vollkommenheit der plaſtiſchen Kunſt durch eine Ue-
bertragung decken. Das mild Schöne des anmuthigen romaniſch-germa-
niſchen Styls iſt übrigens in dieſem herben Style nicht geradezu ver-
ſchwunden; wir erinnern nur an Ein Beiſpiel, die herrliche betende Ma-
ria der Kunſtſchule zu Nürnberg, wo ſelbſt der weiche Faltenfluß nicht
fehlt. Auch in Chriſtusbildern dringen vereinzelt wieder ideale Bildun-
gen durch, im Ganzen aber herrſchen grobe nordiſche Körper- und Ge-
ſichtsformen, eckige Bewegungen und Falten, die Trachten der Zeit tre-
ten rückſichtslos neben den idealen Gewändern der höheren Typen auf,
der Künſtler greift nach den härteſten Zügen individueller Eigenheit, durch-
wandelt unplaſtiſch den Himmel und die Hölle der Affectenwelt des chriſt-

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[488/0162] Entfaltung des Furchtbaren und Komiſchen, einer Eckigkeit der Formen, das Maleriſche der Compoſition in perſpectiviſcher Behandlung des Relief mit einer Beſtimmtheit herrſcht, welche auf den erſten Blick als bloße Manier und Ver- irrung erſcheint. Allein nicht nur erhält ſich auch jetzt noch ein Reſt ſtatuari- ſcher Würde und Gediegenheit, ſondern die ganze Kunſtgattung verzichtet durch die Art ihres Anſchluſſes an die Baukunſt auf Selbſtändigkeit, ergänzt dieſe in einem dichteriſchen Cyklus und bedeckt die harte Wahrheit ihrer Formen durch völlige durchgeführte Polychromie, mit welcher die ornamentiſtiſche Hal- tung des Ganzen wieder verſöhnt. Der neue Styl tritt zuerſt in Flandern, hier bereits im vierzehnten Jahrhundert, auf und iſt ohne Zweifel von hier in Deutſchland einge- drungen. Das bunte Altarſchnitzwerk wurde niederländiſche Arbeit genannt (vergl. Geſch. der deutſch. Kunſt v. E. Förſter Th. 2, S. 17). Dieſer Styl könnte als gothiſch bezeichnet werden, weil man bei dem Gothiſchen doch vorzüg- lich an das nordiſch Eckige, ſtachlicht Individualiſirte zu denken gewohnt iſt. Wir haben uns bereits dagegen erklärt, daß er als Abfall vom Ideal aufgefaßt werde. Der Zug des Mittelalters war ein anderer, als der des Alterthums; was im Zuſammenhang antiken Entwicklungsganges Fall war, iſt im Mittelalter Steigen. Freilich ſetzt dieß eine andere Kunſt- gattung als das Bett voraus, worin das weſentlich verſchiedene Ideal des Mittelalters ſeine Höhe erreicht: die Malerei; aber überall reißt die vorzüglich herrſchende, das Ideal einer Zeit ausſprechende Kunſt die andern Künſte mit ſich fort und in die Scharte, die dadurch den aus ihrem Weſen flie- ßenden Stylformen geſchlagen wird, dringt verſöhnend und entſchädigend eben jener Zug des Ganzen mit ſeiner hohen Berechtigung. In Grie- chenland konnte die Malerei und Poeſie neben dem herrſchenden Zuge zu plaſtiſcher Idealität keineswegs den Styl entwickeln, in welchem ſich erſt die Fülle des Weſens dieſer Künſte zeigt, aber wir bewundern ſie doch, weil wir vom plaſtiſchen Grundgefühle fortgeriſſen die Mängel der Entwicklung mit der Vollkommenheit der plaſtiſchen Kunſt durch eine Ue- bertragung decken. Das mild Schöne des anmuthigen romaniſch-germa- niſchen Styls iſt übrigens in dieſem herben Style nicht geradezu ver- ſchwunden; wir erinnern nur an Ein Beiſpiel, die herrliche betende Ma- ria der Kunſtſchule zu Nürnberg, wo ſelbſt der weiche Faltenfluß nicht fehlt. Auch in Chriſtusbildern dringen vereinzelt wieder ideale Bildun- gen durch, im Ganzen aber herrſchen grobe nordiſche Körper- und Ge- ſichtsformen, eckige Bewegungen und Falten, die Trachten der Zeit tre- ten rückſichtslos neben den idealen Gewändern der höheren Typen auf, der Künſtler greift nach den härteſten Zügen individueller Eigenheit, durch- wandelt unplaſtiſch den Himmel und die Hölle der Affectenwelt des chriſt-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/162>, abgerufen am 26.04.2024.