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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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einer Zeit überhaupt in ihnen ausdrücken; z. B. kirchliche Baukunst und
Malerei wird dann nicht rein ästhetisch, sondern so zu sagen symptomatisch
als Theil des Gottesdienstes, somit des innern Culturzustands überhaupt,
betrachtet. Waffen, Kleidung, Geräthe drücken die Art der Kriegsführung,
die Begriffe vom Angenehmen, Anständigen, Nützlichen aus; die Fertig-
keiten, durch die sie hervorgebracht und womit sie gebraucht werden, weisen
dadurch mittelbar auch auf den tieferen Charakter einer Nation, Epoche,
auf die Höhe ihres Wissens und Fühlens, und so heißen sie Culturformen.
Es handelt sich also wesentlich immer darum, wie das Innere in seiner Erschei-
nung sich ausnimmt, das Aeußere hat allerdings wesentlich die Bedeutung des
Symptoms, aber dieß hebt das spezifische Interesse für die sinnliche Erschei-
nungsweise als solche nicht auf. Diese ganze Formenwelt rückt denn also
im epischen Gebiete mit der Handlung und dem innern Leben des Menschen
in die Beleuchtung Eines ungetrennten poetischen Nachdrucks; man will
überall sehen, wie der Mensch sich gebahrt, im Umgange sich bewegt, Gott
verehrt, baut, bildet, malt, fährt und reitet, kämpft, welche Geräthe er
gebraucht, wie er gekleidet ist, ißt und trinkt. Dieß Alles erfreut gleichzeitig
und gleich innig das innere Anschauungsbedürfniß wie den sittlich geistigen
Drang, von dem eigentlichen Denken, Fühlen und Wollen einer Zeit ein
klares Bild zu bekommen. Da nun der tiefere Grund solcher Auffassungsweise
überhaupt darin liegt, daß sie auf der Kategorie des Seins ruht, so erhellt
ferner von selbst, daß vorzüglich das Gebiet, welchem diese Kategorie
ursprünglich und eigentlich angehört und von welchem sie auf das mensch-
liche Leben übergetragen ist, die Natur, mit kindlicher Freude angeschaut und
beleuchtet wird: Luft, Licht, Land und Wasser, Sturm und Stille, die
Pflanze und namentlich das Thier, das zum Menschen, wo er im Sinne
des höheren Instinctlebens aufgefaßt wird, wie ein einfaches, unentwickeltes,
aber auch unverwickeltes Prototyp sich verhält und als sein Genosse und
Diener ihn fortsetzt nach der Naturseite. Die Gediegenheit des Daseins,
wie sie sich in compacten, klar umrissenen, fest gemessenen Gestaltungen und
ebenso mächtigen, Alles tragenden, nährenden, umhüllenden, elementarischen
Potenzen offenbart, erfreut den offenen Sinn für Realität, Kraft und
Form.

Es leuchtet ein, daß das Epos eine tiefe Verwandtschaft mit dem
Sittenbilde hat, denn dieses "faßt den Menschen unter dem Standpuncte
des Seins, der Zuständlichkeit auf" (vergl. §. 696 Anm., wozu in §. 697
bereits der Begriff des Epischen vorausgenommen und auf dieses Gebiet
angewandt werden mußte). Und dieß führt zurück auf den Standpunct des
allgemein Menschlichen (§. 702). Die Parallele gilt nicht nur einer beson-
dern Form, die dem Sittenbilde spezieller verwandt ist und die wir unter-
scheiden werden, sondern auch dem großartigen heroischen Epos. Es ruht

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 82

einer Zeit überhaupt in ihnen ausdrücken; z. B. kirchliche Baukunſt und
Malerei wird dann nicht rein äſthetiſch, ſondern ſo zu ſagen ſymptomatiſch
als Theil des Gottesdienſtes, ſomit des innern Culturzuſtands überhaupt,
betrachtet. Waffen, Kleidung, Geräthe drücken die Art der Kriegsführung,
die Begriffe vom Angenehmen, Anſtändigen, Nützlichen aus; die Fertig-
keiten, durch die ſie hervorgebracht und womit ſie gebraucht werden, weiſen
dadurch mittelbar auch auf den tieferen Charakter einer Nation, Epoche,
auf die Höhe ihres Wiſſens und Fühlens, und ſo heißen ſie Culturformen.
Es handelt ſich alſo weſentlich immer darum, wie das Innere in ſeiner Erſchei-
nung ſich ausnimmt, das Aeußere hat allerdings weſentlich die Bedeutung des
Symptoms, aber dieß hebt das ſpezifiſche Intereſſe für die ſinnliche Erſchei-
nungsweiſe als ſolche nicht auf. Dieſe ganze Formenwelt rückt denn alſo
im epiſchen Gebiete mit der Handlung und dem innern Leben des Menſchen
in die Beleuchtung Eines ungetrennten poetiſchen Nachdrucks; man will
überall ſehen, wie der Menſch ſich gebahrt, im Umgange ſich bewegt, Gott
verehrt, baut, bildet, malt, fährt und reitet, kämpft, welche Geräthe er
gebraucht, wie er gekleidet iſt, ißt und trinkt. Dieß Alles erfreut gleichzeitig
und gleich innig das innere Anſchauungsbedürfniß wie den ſittlich geiſtigen
Drang, von dem eigentlichen Denken, Fühlen und Wollen einer Zeit ein
klares Bild zu bekommen. Da nun der tiefere Grund ſolcher Auffaſſungsweiſe
überhaupt darin liegt, daß ſie auf der Kategorie des Seins ruht, ſo erhellt
ferner von ſelbſt, daß vorzüglich das Gebiet, welchem dieſe Kategorie
urſprünglich und eigentlich angehört und von welchem ſie auf das menſch-
liche Leben übergetragen iſt, die Natur, mit kindlicher Freude angeſchaut und
beleuchtet wird: Luft, Licht, Land und Waſſer, Sturm und Stille, die
Pflanze und namentlich das Thier, das zum Menſchen, wo er im Sinne
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aber auch unverwickeltes Prototyp ſich verhält und als ſein Genoſſe und
Diener ihn fortſetzt nach der Naturſeite. Die Gediegenheit des Daſeins,
wie ſie ſich in compacten, klar umriſſenen, feſt gemeſſenen Geſtaltungen und
ebenſo mächtigen, Alles tragenden, nährenden, umhüllenden, elementariſchen
Potenzen offenbart, erfreut den offenen Sinn für Realität, Kraft und
Form.

Es leuchtet ein, daß das Epos eine tiefe Verwandtſchaft mit dem
Sittenbilde hat, denn dieſes „faßt den Menſchen unter dem Standpuncte
des Seins, der Zuſtändlichkeit auf“ (vergl. §. 696 Anm., wozu in §. 697
bereits der Begriff des Epiſchen vorausgenommen und auf dieſes Gebiet
angewandt werden mußte). Und dieß führt zurück auf den Standpunct des
allgemein Menſchlichen (§. 702). Die Parallele gilt nicht nur einer beſon-
dern Form, die dem Sittenbilde ſpezieller verwandt iſt und die wir unter-
ſcheiden werden, ſondern auch dem großartigen heroiſchen Epos. Es ruht

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 82
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[1271/0135] einer Zeit überhaupt in ihnen ausdrücken; z. B. kirchliche Baukunſt und Malerei wird dann nicht rein äſthetiſch, ſondern ſo zu ſagen ſymptomatiſch als Theil des Gottesdienſtes, ſomit des innern Culturzuſtands überhaupt, betrachtet. Waffen, Kleidung, Geräthe drücken die Art der Kriegsführung, die Begriffe vom Angenehmen, Anſtändigen, Nützlichen aus; die Fertig- keiten, durch die ſie hervorgebracht und womit ſie gebraucht werden, weiſen dadurch mittelbar auch auf den tieferen Charakter einer Nation, Epoche, auf die Höhe ihres Wiſſens und Fühlens, und ſo heißen ſie Culturformen. Es handelt ſich alſo weſentlich immer darum, wie das Innere in ſeiner Erſchei- nung ſich ausnimmt, das Aeußere hat allerdings weſentlich die Bedeutung des Symptoms, aber dieß hebt das ſpezifiſche Intereſſe für die ſinnliche Erſchei- nungsweiſe als ſolche nicht auf. Dieſe ganze Formenwelt rückt denn alſo im epiſchen Gebiete mit der Handlung und dem innern Leben des Menſchen in die Beleuchtung Eines ungetrennten poetiſchen Nachdrucks; man will überall ſehen, wie der Menſch ſich gebahrt, im Umgange ſich bewegt, Gott verehrt, baut, bildet, malt, fährt und reitet, kämpft, welche Geräthe er gebraucht, wie er gekleidet iſt, ißt und trinkt. Dieß Alles erfreut gleichzeitig und gleich innig das innere Anſchauungsbedürfniß wie den ſittlich geiſtigen Drang, von dem eigentlichen Denken, Fühlen und Wollen einer Zeit ein klares Bild zu bekommen. Da nun der tiefere Grund ſolcher Auffaſſungsweiſe überhaupt darin liegt, daß ſie auf der Kategorie des Seins ruht, ſo erhellt ferner von ſelbſt, daß vorzüglich das Gebiet, welchem dieſe Kategorie urſprünglich und eigentlich angehört und von welchem ſie auf das menſch- liche Leben übergetragen iſt, die Natur, mit kindlicher Freude angeſchaut und beleuchtet wird: Luft, Licht, Land und Waſſer, Sturm und Stille, die Pflanze und namentlich das Thier, das zum Menſchen, wo er im Sinne des höheren Inſtinctlebens aufgefaßt wird, wie ein einfaches, unentwickeltes, aber auch unverwickeltes Prototyp ſich verhält und als ſein Genoſſe und Diener ihn fortſetzt nach der Naturſeite. Die Gediegenheit des Daſeins, wie ſie ſich in compacten, klar umriſſenen, feſt gemeſſenen Geſtaltungen und ebenſo mächtigen, Alles tragenden, nährenden, umhüllenden, elementariſchen Potenzen offenbart, erfreut den offenen Sinn für Realität, Kraft und Form. Es leuchtet ein, daß das Epos eine tiefe Verwandtſchaft mit dem Sittenbilde hat, denn dieſes „faßt den Menſchen unter dem Standpuncte des Seins, der Zuſtändlichkeit auf“ (vergl. §. 696 Anm., wozu in §. 697 bereits der Begriff des Epiſchen vorausgenommen und auf dieſes Gebiet angewandt werden mußte). Und dieß führt zurück auf den Standpunct des allgemein Menſchlichen (§. 702). Die Parallele gilt nicht nur einer beſon- dern Form, die dem Sittenbilde ſpezieller verwandt iſt und die wir unter- ſcheiden werden, ſondern auch dem großartigen heroiſchen Epos. Es ruht Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 82

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/135>, abgerufen am 26.04.2024.