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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Häßlichen keine reine Komik entbindend in Smollet auf. -- Inzwischen
hatte sich das Sentimentale entwickelt. Es verbindet sich in der eng-
lischen Literatur alsbald mit dem Komischen so, daß die tiefere Gestalt
desselben, der Humor, auflebt: Goldsmith und Sterne schaffen den humori-
stischen Roman. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, diese Gestalt zu schildern,
da ihr inneres Wesen im ersten Theil im Abschnitt vom Humor aufgezeigt
ist (vergl. namentlich §. 220). In Deutschland bildete sich unter starkem
englischem Einfluß die empfindsame Stimmung zu einer Gewalt aus, welche
sich im Romane, der durch seine exotischen Motive ihr unmittelbar das
natürlichste Gefäß darbietet, eine besondere Form schafft, die geistvollste
in Werther's Leiden, worin sie mit ihrer verführerischen Schönheit ihr wahres
Wesen zugleich als Selbstverrichtung enthüllt und, indem sie sich ganz dar-
stellt, sich negativ heilt. Aber daneben zieht sich, ebenfalls von der eng-
lischen Literatur angeregt, die komische Linie hin und bereitet eine andere
Weise der Auflösung des Sentimentalen vor, den eigenthümlichen Umschlag
in den Humor, der sich nicht wirklich von diesem Geiste der überschweng-
lichen Sehnsucht befreit, sondern immer sein Bild neu erzeugt, um es neu
in das "Lächeln zwischen Thränen" aufzulösen: J. P. Fr. Richter (vergl.
§. 205 ff. und §. 480). Der komische Roman ist seither in mancherlei
Form aufgetreten, hat aber den Reichthum und die Gewalt dieses zwar
formlosen Humoristen und seiner englischen Vorgänger nicht wieder erreicht.
Die neuere romantische Schule hat die phantastischen Motive der ursprüng-
lichen Romantik wieder ausgebeutet, dämonische Gestalten des Unheimlichen
beschworen und diese Welt in die kranke Form des gebrochenen, zerrissenen
Humors unvollkommen aufgelöst.

Wir haben gesehen, daß das Epos tief tragisch endigen kann, seiner
Natur nach aber mehr zum glücklichen Ausgang treibt. Dieß ist noch
mehr der Fall bei dem Romane, da er sich mit den milderen Motiven des
Seelenlebens befaßt und den Gang seines Helden durch die Conflicte des
Lebens mit der Entwicklung seiner Persönlichkeit zur wahren Humanität
zu schließen seine innerste Aufgabe ist. Allein diese Conflicte begründen
nicht nur im Einzelnen um so schneidendere tragische Momente, als die
Subjectivität hier in ihrer ganzen Feinfühligkeit auf die Härten des Lebens
stößt, sondern es muß dem Roman auch unbenommen sein, sich ganz im
tragischen Elemente zu bewegen und es in einen finstern Schluß, in das
Bild einer an der Unerbittlichkeit der Weltbedingungen scheiternden Persön-
lichkeit zusammenzudrängen.

§. 883.

Dem Romane stellt sich als das kleinere Bild einer Situation aus dem1.
größern Ganzen des Weltzustands und der persönlichen Entwicklung die Ro-

Häßlichen keine reine Komik entbindend in Smollet auf. — Inzwiſchen
hatte ſich das Sentimentale entwickelt. Es verbindet ſich in der eng-
liſchen Literatur alsbald mit dem Komiſchen ſo, daß die tiefere Geſtalt
deſſelben, der Humor, auflebt: Goldſmith und Sterne ſchaffen den humori-
ſtiſchen Roman. Es iſt hier nicht unſere Aufgabe, dieſe Geſtalt zu ſchildern,
da ihr inneres Weſen im erſten Theil im Abſchnitt vom Humor aufgezeigt
iſt (vergl. namentlich §. 220). In Deutſchland bildete ſich unter ſtarkem
engliſchem Einfluß die empfindſame Stimmung zu einer Gewalt aus, welche
ſich im Romane, der durch ſeine exotiſchen Motive ihr unmittelbar das
natürlichſte Gefäß darbietet, eine beſondere Form ſchafft, die geiſtvollſte
in Werther’s Leiden, worin ſie mit ihrer verführeriſchen Schönheit ihr wahres
Weſen zugleich als Selbſtverrichtung enthüllt und, indem ſie ſich ganz dar-
ſtellt, ſich negativ heilt. Aber daneben zieht ſich, ebenfalls von der eng-
liſchen Literatur angeregt, die komiſche Linie hin und bereitet eine andere
Weiſe der Auflöſung des Sentimentalen vor, den eigenthümlichen Umſchlag
in den Humor, der ſich nicht wirklich von dieſem Geiſte der überſchweng-
lichen Sehnſucht befreit, ſondern immer ſein Bild neu erzeugt, um es neu
in das „Lächeln zwiſchen Thränen“ aufzulöſen: J. P. Fr. Richter (vergl.
§. 205 ff. und §. 480). Der komiſche Roman iſt ſeither in mancherlei
Form aufgetreten, hat aber den Reichthum und die Gewalt dieſes zwar
formloſen Humoriſten und ſeiner engliſchen Vorgänger nicht wieder erreicht.
Die neuere romantiſche Schule hat die phantaſtiſchen Motive der urſprüng-
lichen Romantik wieder ausgebeutet, dämoniſche Geſtalten des Unheimlichen
beſchworen und dieſe Welt in die kranke Form des gebrochenen, zerriſſenen
Humors unvollkommen aufgelöst.

Wir haben geſehen, daß das Epos tief tragiſch endigen kann, ſeiner
Natur nach aber mehr zum glücklichen Ausgang treibt. Dieß iſt noch
mehr der Fall bei dem Romane, da er ſich mit den milderen Motiven des
Seelenlebens befaßt und den Gang ſeines Helden durch die Conflicte des
Lebens mit der Entwicklung ſeiner Perſönlichkeit zur wahren Humanität
zu ſchließen ſeine innerſte Aufgabe iſt. Allein dieſe Conflicte begründen
nicht nur im Einzelnen um ſo ſchneidendere tragiſche Momente, als die
Subjectivität hier in ihrer ganzen Feinfühligkeit auf die Härten des Lebens
ſtößt, ſondern es muß dem Roman auch unbenommen ſein, ſich ganz im
tragiſchen Elemente zu bewegen und es in einen finſtern Schluß, in das
Bild einer an der Unerbittlichkeit der Weltbedingungen ſcheiternden Perſön-
lichkeit zuſammenzudrängen.

§. 883.

Dem Romane ſtellt ſich als das kleinere Bild einer Situation aus dem1.
größern Ganzen des Weltzuſtands und der perſönlichen Entwicklung die Ro-

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[1317/0181] Häßlichen keine reine Komik entbindend in Smollet auf. — Inzwiſchen hatte ſich das Sentimentale entwickelt. Es verbindet ſich in der eng- liſchen Literatur alsbald mit dem Komiſchen ſo, daß die tiefere Geſtalt deſſelben, der Humor, auflebt: Goldſmith und Sterne ſchaffen den humori- ſtiſchen Roman. Es iſt hier nicht unſere Aufgabe, dieſe Geſtalt zu ſchildern, da ihr inneres Weſen im erſten Theil im Abſchnitt vom Humor aufgezeigt iſt (vergl. namentlich §. 220). In Deutſchland bildete ſich unter ſtarkem engliſchem Einfluß die empfindſame Stimmung zu einer Gewalt aus, welche ſich im Romane, der durch ſeine exotiſchen Motive ihr unmittelbar das natürlichſte Gefäß darbietet, eine beſondere Form ſchafft, die geiſtvollſte in Werther’s Leiden, worin ſie mit ihrer verführeriſchen Schönheit ihr wahres Weſen zugleich als Selbſtverrichtung enthüllt und, indem ſie ſich ganz dar- ſtellt, ſich negativ heilt. Aber daneben zieht ſich, ebenfalls von der eng- liſchen Literatur angeregt, die komiſche Linie hin und bereitet eine andere Weiſe der Auflöſung des Sentimentalen vor, den eigenthümlichen Umſchlag in den Humor, der ſich nicht wirklich von dieſem Geiſte der überſchweng- lichen Sehnſucht befreit, ſondern immer ſein Bild neu erzeugt, um es neu in das „Lächeln zwiſchen Thränen“ aufzulöſen: J. P. Fr. Richter (vergl. §. 205 ff. und §. 480). Der komiſche Roman iſt ſeither in mancherlei Form aufgetreten, hat aber den Reichthum und die Gewalt dieſes zwar formloſen Humoriſten und ſeiner engliſchen Vorgänger nicht wieder erreicht. Die neuere romantiſche Schule hat die phantaſtiſchen Motive der urſprüng- lichen Romantik wieder ausgebeutet, dämoniſche Geſtalten des Unheimlichen beſchworen und dieſe Welt in die kranke Form des gebrochenen, zerriſſenen Humors unvollkommen aufgelöst. Wir haben geſehen, daß das Epos tief tragiſch endigen kann, ſeiner Natur nach aber mehr zum glücklichen Ausgang treibt. Dieß iſt noch mehr der Fall bei dem Romane, da er ſich mit den milderen Motiven des Seelenlebens befaßt und den Gang ſeines Helden durch die Conflicte des Lebens mit der Entwicklung ſeiner Perſönlichkeit zur wahren Humanität zu ſchließen ſeine innerſte Aufgabe iſt. Allein dieſe Conflicte begründen nicht nur im Einzelnen um ſo ſchneidendere tragiſche Momente, als die Subjectivität hier in ihrer ganzen Feinfühligkeit auf die Härten des Lebens ſtößt, ſondern es muß dem Roman auch unbenommen ſein, ſich ganz im tragiſchen Elemente zu bewegen und es in einen finſtern Schluß, in das Bild einer an der Unerbittlichkeit der Weltbedingungen ſcheiternden Perſön- lichkeit zuſammenzudrängen. §. 883. Dem Romane ſtellt ſich als das kleinere Bild einer Situation aus dem größern Ganzen des Weltzuſtands und der perſönlichen Entwicklung die Ro-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/181>, abgerufen am 26.04.2024.