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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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beschränkteste Geltung hat, und theilt wie das Epos ihre Gruppen vor Allem
in Hintergrund und Vordergrund. Sie bewegt sich wesentlich in wirksamen
Contrasten, schreitet in straff bindender Motivirung fort, wirft die
retardirenden Momente im Wachsen und Anschwellen des herrschenden Pathos
und hinter ihm der Schicksalsmacht mit beschleunigtem Gang und kurzen Nuhe-
puncten nieder und gliedert ihren Uhythmus in Schürzung, Verwicklung,
Lösung
des Knotens oder Katastrophe: eine Dreiheit, die sie mit der
epischen Composition theilt, die sich aber hier in bestimmte Einschnitte, Acte
genannt, zerlegt, welche sich naturgemäß zur Fünfzahl erweitern und wieder in
einzelne Auftritte zerfallen.

Der oberste Satz des §. ist genauer so auszudrücken: kein Werk der
Kunst ist so ganz Composition wie das Drama, denn in keinem wird aller
Stoff so durcharbeitet und alles Einzelne so ganz und straff in einen Zu-
sammenhang gerückt, worin es seine ganze Bedeutung durch die Beziehung
zum Andern hat. Das ist die weitere, spezifisch künstlerische Bedeutung
jenes Aristotelischen Satzes, den wir in §. 899 zunächst nur für den In-
halt an sich, das Weltbild des Drama und das Verhältniß seiner Seiten,
geltend gemacht haben, des Satzes, daß in der Tragödie nicht die Menschen,
sondern die Zusammenstellung der Begebenheiten, die Behandlung des Mythus
(der Fabel) die Hauptsache sei; Aristoteles fügt eine feine Vergleichung mit
der Malerei hinzu: ein monochromes, gut componirtes Bild erfreue weit
mehr, als ein anderes mit planlos aufgetragenen schönen Farben. Die
Farbe entspricht der Charakterzeichnung, überhaupt aber aller Einzelschönheit,
allem einzelnen Effecte, wodurch im Zuschauer ein Interesse erweckt wird,
das stoffartig ist, wenn es sich nicht in das reine Interesse für das Ganze
und seinen Gang aufhebt, in welchem Alles sich gegenseitig bedingt, hält
und trägt. -- Was nun zuerst die allgemeinen Existenzformen, Raum und
Zeit, betrifft, in denen das Drama sich bewegt, so gehen wir über die
Frage von den sogenannten Einheiten derselben in Kürze weg, um eine
längst abgethane und veraltete Debatte nicht müßig aufzuwärmen. Es
ist schon dadurch, daß der §. den Begriff der Einheit erst bei der Handlung
einführt, dem Ansinnen ausgewichen, uns noch einmal mit den Franzosen
und ihrem mißverstandenen Aristoteles zu beschäftigen. Oft genug ist es
gesagt, daß die Poesie und am entschiedensten das Drama die Zeit idealisirt,
indem die Strecken derselben, worin nichts an sich Bedeutendes, nichts für
die gegenwärtige Handlung Bedeutendes geschieht, für sie gar nicht vor-
handen sind. Allerdings darf man aber ebendarum nicht an den Unterschied
der gemeinen Zeit von der empirischen ausdrücklich erinnern, wie in jenen
neueren, namentlich französischen Effectstücken geschieht, welche buchstäblich
ankündigen, daß zwischen den Acten zehn, zwanzig und mehr Jahre ver-

beſchränkteſte Geltung hat, und theilt wie das Epos ihre Gruppen vor Allem
in Hintergrund und Vordergrund. Sie bewegt ſich weſentlich in wirkſamen
Contraſten, ſchreitet in ſtraff bindender Motivirung fort, wirft die
retardirenden Momente im Wachſen und Anſchwellen des herrſchenden Pathos
und hinter ihm der Schickſalsmacht mit beſchleunigtem Gang und kurzen Nuhe-
puncten nieder und gliedert ihren Uhythmus in Schürzung, Verwicklung,
Löſung
des Knotens oder Kataſtrophe: eine Dreiheit, die ſie mit der
epiſchen Compoſition theilt, die ſich aber hier in beſtimmte Einſchnitte, Acte
genannt, zerlegt, welche ſich naturgemäß zur Fünfzahl erweitern und wieder in
einzelne Auftritte zerfallen.

Der oberſte Satz des §. iſt genauer ſo auszudrücken: kein Werk der
Kunſt iſt ſo ganz Compoſition wie das Drama, denn in keinem wird aller
Stoff ſo durcharbeitet und alles Einzelne ſo ganz und ſtraff in einen Zu-
ſammenhang gerückt, worin es ſeine ganze Bedeutung durch die Beziehung
zum Andern hat. Das iſt die weitere, ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung
jenes Ariſtoteliſchen Satzes, den wir in §. 899 zunächſt nur für den In-
halt an ſich, das Weltbild des Drama und das Verhältniß ſeiner Seiten,
geltend gemacht haben, des Satzes, daß in der Tragödie nicht die Menſchen,
ſondern die Zuſammenſtellung der Begebenheiten, die Behandlung des Mythus
(der Fabel) die Hauptſache ſei; Ariſtoteles fügt eine feine Vergleichung mit
der Malerei hinzu: ein monochromes, gut componirtes Bild erfreue weit
mehr, als ein anderes mit planlos aufgetragenen ſchönen Farben. Die
Farbe entſpricht der Charakterzeichnung, überhaupt aber aller Einzelſchönheit,
allem einzelnen Effecte, wodurch im Zuſchauer ein Intereſſe erweckt wird,
das ſtoffartig iſt, wenn es ſich nicht in das reine Intereſſe für das Ganze
und ſeinen Gang aufhebt, in welchem Alles ſich gegenſeitig bedingt, hält
und trägt. — Was nun zuerſt die allgemeinen Exiſtenzformen, Raum und
Zeit, betrifft, in denen das Drama ſich bewegt, ſo gehen wir über die
Frage von den ſogenannten Einheiten derſelben in Kürze weg, um eine
längſt abgethane und veraltete Debatte nicht müßig aufzuwärmen. Es
iſt ſchon dadurch, daß der §. den Begriff der Einheit erſt bei der Handlung
einführt, dem Anſinnen ausgewichen, uns noch einmal mit den Franzoſen
und ihrem mißverſtandenen Ariſtoteles zu beſchäftigen. Oft genug iſt es
geſagt, daß die Poeſie und am entſchiedenſten das Drama die Zeit idealiſirt,
indem die Strecken derſelben, worin nichts an ſich Bedeutendes, nichts für
die gegenwärtige Handlung Bedeutendes geſchieht, für ſie gar nicht vor-
handen ſind. Allerdings darf man aber ebendarum nicht an den Unterſchied
der gemeinen Zeit von der empiriſchen ausdrücklich erinnern, wie in jenen
neueren, namentlich franzöſiſchen Effectſtücken geſchieht, welche buchſtäblich
ankündigen, daß zwiſchen den Acten zehn, zwanzig und mehr Jahre ver-

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[1395/0259] beſchränkteſte Geltung hat, und theilt wie das Epos ihre Gruppen vor Allem in Hintergrund und Vordergrund. Sie bewegt ſich weſentlich in wirkſamen Contraſten, ſchreitet in ſtraff bindender Motivirung fort, wirft die retardirenden Momente im Wachſen und Anſchwellen des herrſchenden Pathos und hinter ihm der Schickſalsmacht mit beſchleunigtem Gang und kurzen Nuhe- puncten nieder und gliedert ihren Uhythmus in Schürzung, Verwicklung, Löſung des Knotens oder Kataſtrophe: eine Dreiheit, die ſie mit der epiſchen Compoſition theilt, die ſich aber hier in beſtimmte Einſchnitte, Acte genannt, zerlegt, welche ſich naturgemäß zur Fünfzahl erweitern und wieder in einzelne Auftritte zerfallen. Der oberſte Satz des §. iſt genauer ſo auszudrücken: kein Werk der Kunſt iſt ſo ganz Compoſition wie das Drama, denn in keinem wird aller Stoff ſo durcharbeitet und alles Einzelne ſo ganz und ſtraff in einen Zu- ſammenhang gerückt, worin es ſeine ganze Bedeutung durch die Beziehung zum Andern hat. Das iſt die weitere, ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung jenes Ariſtoteliſchen Satzes, den wir in §. 899 zunächſt nur für den In- halt an ſich, das Weltbild des Drama und das Verhältniß ſeiner Seiten, geltend gemacht haben, des Satzes, daß in der Tragödie nicht die Menſchen, ſondern die Zuſammenſtellung der Begebenheiten, die Behandlung des Mythus (der Fabel) die Hauptſache ſei; Ariſtoteles fügt eine feine Vergleichung mit der Malerei hinzu: ein monochromes, gut componirtes Bild erfreue weit mehr, als ein anderes mit planlos aufgetragenen ſchönen Farben. Die Farbe entſpricht der Charakterzeichnung, überhaupt aber aller Einzelſchönheit, allem einzelnen Effecte, wodurch im Zuſchauer ein Intereſſe erweckt wird, das ſtoffartig iſt, wenn es ſich nicht in das reine Intereſſe für das Ganze und ſeinen Gang aufhebt, in welchem Alles ſich gegenſeitig bedingt, hält und trägt. — Was nun zuerſt die allgemeinen Exiſtenzformen, Raum und Zeit, betrifft, in denen das Drama ſich bewegt, ſo gehen wir über die Frage von den ſogenannten Einheiten derſelben in Kürze weg, um eine längſt abgethane und veraltete Debatte nicht müßig aufzuwärmen. Es iſt ſchon dadurch, daß der §. den Begriff der Einheit erſt bei der Handlung einführt, dem Anſinnen ausgewichen, uns noch einmal mit den Franzoſen und ihrem mißverſtandenen Ariſtoteles zu beſchäftigen. Oft genug iſt es geſagt, daß die Poeſie und am entſchiedenſten das Drama die Zeit idealiſirt, indem die Strecken derſelben, worin nichts an ſich Bedeutendes, nichts für die gegenwärtige Handlung Bedeutendes geſchieht, für ſie gar nicht vor- handen ſind. Allerdings darf man aber ebendarum nicht an den Unterſchied der gemeinen Zeit von der empiriſchen ausdrücklich erinnern, wie in jenen neueren, namentlich franzöſiſchen Effectſtücken geſchieht, welche buchſtäblich ankündigen, daß zwiſchen den Acten zehn, zwanzig und mehr Jahre ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/259>, abgerufen am 26.04.2024.