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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
wirklich geschichtserzählung. die parallelberichte des Xenophon und
Lysias, bei Diodor und Plutarch berühren sich natürlich oft mit ihr, aber
sie weichen nicht minder häufig ab, so dass Aristoteles durchaus den
wert eines selbständigen zeugen hat. daraus erwächst uns zwar die
aufgabe einer sachlichen prüfung seines berichtes, aber die frage nach
seinen quellen lässt sich zunächst gar nicht aufwerfen. es erscheint zwar
auch hier wie in der geschichte der 400 eine urkunde, der vertrag
zwischen stadt und hafen (39), allein dies war ein veröffentlichtes, viel-
gefeiertes schriftstück, das dem Aristoteles auf so vielen wegen zukommen
konnte, dass man darüber gar keine vermutung wagen wird, und kaum
etwas darauf ankommt. der antragsteller eines entscheidenden volks-
beschlusses wird auch hier einmal erwähnt (34, 3), aber wir erfahren
weder worin dieser beschluss bestand, auf dem doch formell die herr-
schaft der 30 beruhte, noch wodurch sie eigentlich die ihnen gewährte
machtbefugnis überschritten und zu tyrannen wurden (35, 1). also
die urkunden sind nicht die grundlage dieser erzählung, sie trägt viel-
mehr ein total verschiedenes gepräge von dem aus kaum verbundenen
actenstücken bestehenden berichte über die revolution von 411. dass
keine chronik zu grunde liegt, sieht man deutlich an der vernach-
lässigung der genauen zeitrechnung. genannt werden zwar die ar-
chonten Alexias für die schlacht am Ziegenflusse (34, 2), Pythodoros für
die einsetzung der 30 (35, 1), Eukleides für die versöhnung (39, 1).
aber um ganz verständlich zu sein, hätten die angaben hier auf die
monate gestellt werden müssen wie 411; Aristoteles sieht sich auch
genötigt, nachträglich anzugeben, dass der sturz der 30 noch unter
Pythodoros statt fand, dessen andenken später geächtet ward (41, 1).
da lenkt er eben in die chronik ein, der er auch die letztvorhergehende
notiz über die eroberung von Eleusis unter Xenainetos danken wird.
auf einem wege, in den man einlenkt, ist man vorher nicht gegangen.

Einen geschichtsschreiber von autoritativer geltung hat es bekanntlich
für die zeit nach Thukydides nicht gegeben, bis der classicismus der Römer-
zeit sich das armutszeugnis ausstellte, den Xenophon, das stilmuster des
apheles logos, als solchen aufzustellen. 1) wie viel weniger war Aristo-

1) Erst bei Aristides, dessen abhandlung über den apheles logos den Xenophon
als stilmuster aufstellt, ist die trias der historiker ganz offenkundig in geltung. an
Xenophon setzen dann die demosthenischen reden an; für Alexander und seine
nachfolger fehlte ein bequemes buch, von denen weiss man also blutwenig. diesem
mangel sucht der neue Xenophon Arrian abzuhelfen, der es für Alexander erreicht;
seine noch viel zu breite und zeitlich zu wenig weit erstreckte diadochengeschichte

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
wirklich geschichtserzählung. die parallelberichte des Xenophon und
Lysias, bei Diodor und Plutarch berühren sich natürlich oft mit ihr, aber
sie weichen nicht minder häufig ab, so daſs Aristoteles durchaus den
wert eines selbständigen zeugen hat. daraus erwächst uns zwar die
aufgabe einer sachlichen prüfung seines berichtes, aber die frage nach
seinen quellen läſst sich zunächst gar nicht aufwerfen. es erscheint zwar
auch hier wie in der geschichte der 400 eine urkunde, der vertrag
zwischen stadt und hafen (39), allein dies war ein veröffentlichtes, viel-
gefeiertes schriftstück, das dem Aristoteles auf so vielen wegen zukommen
konnte, daſs man darüber gar keine vermutung wagen wird, und kaum
etwas darauf ankommt. der antragsteller eines entscheidenden volks-
beschlusses wird auch hier einmal erwähnt (34, 3), aber wir erfahren
weder worin dieser beschluſs bestand, auf dem doch formell die herr-
schaft der 30 beruhte, noch wodurch sie eigentlich die ihnen gewährte
machtbefugnis überschritten und zu tyrannen wurden (35, 1). also
die urkunden sind nicht die grundlage dieser erzählung, sie trägt viel-
mehr ein total verschiedenes gepräge von dem aus kaum verbundenen
actenstücken bestehenden berichte über die revolution von 411. daſs
keine chronik zu grunde liegt, sieht man deutlich an der vernach-
lässigung der genauen zeitrechnung. genannt werden zwar die ar-
chonten Alexias für die schlacht am Ziegenflusse (34, 2), Pythodoros für
die einsetzung der 30 (35, 1), Eukleides für die versöhnung (39, 1).
aber um ganz verständlich zu sein, hätten die angaben hier auf die
monate gestellt werden müssen wie 411; Aristoteles sieht sich auch
genötigt, nachträglich anzugeben, daſs der sturz der 30 noch unter
Pythodoros statt fand, dessen andenken später geächtet ward (41, 1).
da lenkt er eben in die chronik ein, der er auch die letztvorhergehende
notiz über die eroberung von Eleusis unter Xenainetos danken wird.
auf einem wege, in den man einlenkt, ist man vorher nicht gegangen.

Einen geschichtsschreiber von autoritativer geltung hat es bekanntlich
für die zeit nach Thukydides nicht gegeben, bis der classicismus der Römer-
zeit sich das armutszeugnis ausstellte, den Xenophon, das stilmuster des
ἀφελὴς λόγος, als solchen aufzustellen. 1) wie viel weniger war Aristo-

1) Erst bei Aristides, dessen abhandlung über den ἀφελὴς λόγος den Xenophon
als stilmuster aufstellt, ist die trias der historiker ganz offenkundig in geltung. an
Xenophon setzen dann die demosthenischen reden an; für Alexander und seine
nachfolger fehlte ein bequemes buch, von denen weiſs man also blutwenig. diesem
mangel sucht der neue Xenophon Arrian abzuhelfen, der es für Alexander erreicht;
seine noch viel zu breite und zeitlich zu wenig weit erstreckte diadochengeschichte
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[122/0136] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. wirklich geschichtserzählung. die parallelberichte des Xenophon und Lysias, bei Diodor und Plutarch berühren sich natürlich oft mit ihr, aber sie weichen nicht minder häufig ab, so daſs Aristoteles durchaus den wert eines selbständigen zeugen hat. daraus erwächst uns zwar die aufgabe einer sachlichen prüfung seines berichtes, aber die frage nach seinen quellen läſst sich zunächst gar nicht aufwerfen. es erscheint zwar auch hier wie in der geschichte der 400 eine urkunde, der vertrag zwischen stadt und hafen (39), allein dies war ein veröffentlichtes, viel- gefeiertes schriftstück, das dem Aristoteles auf so vielen wegen zukommen konnte, daſs man darüber gar keine vermutung wagen wird, und kaum etwas darauf ankommt. der antragsteller eines entscheidenden volks- beschlusses wird auch hier einmal erwähnt (34, 3), aber wir erfahren weder worin dieser beschluſs bestand, auf dem doch formell die herr- schaft der 30 beruhte, noch wodurch sie eigentlich die ihnen gewährte machtbefugnis überschritten und zu tyrannen wurden (35, 1). also die urkunden sind nicht die grundlage dieser erzählung, sie trägt viel- mehr ein total verschiedenes gepräge von dem aus kaum verbundenen actenstücken bestehenden berichte über die revolution von 411. daſs keine chronik zu grunde liegt, sieht man deutlich an der vernach- lässigung der genauen zeitrechnung. genannt werden zwar die ar- chonten Alexias für die schlacht am Ziegenflusse (34, 2), Pythodoros für die einsetzung der 30 (35, 1), Eukleides für die versöhnung (39, 1). aber um ganz verständlich zu sein, hätten die angaben hier auf die monate gestellt werden müssen wie 411; Aristoteles sieht sich auch genötigt, nachträglich anzugeben, daſs der sturz der 30 noch unter Pythodoros statt fand, dessen andenken später geächtet ward (41, 1). da lenkt er eben in die chronik ein, der er auch die letztvorhergehende notiz über die eroberung von Eleusis unter Xenainetos danken wird. auf einem wege, in den man einlenkt, ist man vorher nicht gegangen. Einen geschichtsschreiber von autoritativer geltung hat es bekanntlich für die zeit nach Thukydides nicht gegeben, bis der classicismus der Römer- zeit sich das armutszeugnis ausstellte, den Xenophon, das stilmuster des ἀφελὴς λόγος, als solchen aufzustellen. 1) wie viel weniger war Aristo- 1) Erst bei Aristides, dessen abhandlung über den ἀφελὴς λόγος den Xenophon als stilmuster aufstellt, ist die trias der historiker ganz offenkundig in geltung. an Xenophon setzen dann die demosthenischen reden an; für Alexander und seine nachfolger fehlte ein bequemes buch, von denen weiſs man also blutwenig. diesem mangel sucht der neue Xenophon Arrian abzuhelfen, der es für Alexander erreicht; seine noch viel zu breite und zeitlich zu wenig weit erstreckte diadochengeschichte

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/136>, abgerufen am 26.04.2024.