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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Zweytes Capitel.
Palmen hoch in der Villa Albani, ist die Weite von einem Fuße zum an-
dern über drey Palme. Die Arme hängen gerade herunter längst den
Seiten, an welche sie, wie fest angedrücket, vereinigt liegen, und folglich
haben dergleichen Figuren gar keine Handlung, welche durch Bewegung
der Arme und der Hände ausgedrucket wird. Diese Unbeweglichkeit der-
selben ist ein Beweis, nicht der Ungeschicklichkeit ihrer Künstler, sondern
von einer in Statuen gesetzten und angenommenen Regel, nach welcher
sie, wie nach einem und eben demselben Muster, gearbeitet haben: denn die
Handlung, welche sie ihren Figuren gegeben, zeiget sich an Obelisken, und
auf andern Werken. Verschiedene Figuren sitzen auf untergeschlagenen
Beinen, oder auf dem Knie, welche man daher Engonases 1) nennen
könnte, und in dieser Stellung waren die drey Dii Nixi, 2) welche vor
den drey Capellen des Olympischen Jupiters zu Rom standen.

In der großen Einheit der Zeichnung ihrer Fuguren sind die Knochen
und Muskeln wenig, Nerven und Adern aber gar nicht angedeutet: die
Knie, die Knöchel des Fußes, und eine Anzeige vom Ellenbogen zeigen
sich erhaben, wie in der Natur. Der Rücken ist wegen der Säule, an
welche ihre Statuen aus einem Stücke mit derselben gestellet sind, nicht
sichtbar. Der angeführte Antinous hat den Rücken frey. Die wenig
ausschweifende Umrisse ihrer Figuren sind zugleich eine Ursache der engen
und zusammengezogenen Form derselben, durch welche Petronius 3) den
Aegyptischen Stil in der Kunst bedeutet. Es unterscheiden sich auch
Aegyptische, sonderlich männliche Figuren, durch den ungewöhnlich schma-
len Leib über der Hüfte.

Diese angegebene Eigenschaften und Kennzeichen des Aegyptischen
Stils, so wohl die Umschreibung und die Formen in fast geraden Linien,
als die wenige Andeutung der Knochen und Muskeln, leiden eine Aus-

nahme
1) Cic. de nat. deor. L. 2. c. 52.
2) v. Fest. Dii Nixi.
3) Satyr. c. 2. p. 13. edit. Burm.

I Theil. Zweytes Capitel.
Palmen hoch in der Villa Albani, iſt die Weite von einem Fuße zum an-
dern uͤber drey Palme. Die Arme haͤngen gerade herunter laͤngſt den
Seiten, an welche ſie, wie feſt angedruͤcket, vereinigt liegen, und folglich
haben dergleichen Figuren gar keine Handlung, welche durch Bewegung
der Arme und der Haͤnde ausgedrucket wird. Dieſe Unbeweglichkeit der-
ſelben iſt ein Beweis, nicht der Ungeſchicklichkeit ihrer Kuͤnſtler, ſondern
von einer in Statuen geſetzten und angenommenen Regel, nach welcher
ſie, wie nach einem und eben demſelben Muſter, gearbeitet haben: denn die
Handlung, welche ſie ihren Figuren gegeben, zeiget ſich an Obelisken, und
auf andern Werken. Verſchiedene Figuren ſitzen auf untergeſchlagenen
Beinen, oder auf dem Knie, welche man daher Engonaſes 1) nennen
koͤnnte, und in dieſer Stellung waren die drey Dii Nixi, 2) welche vor
den drey Capellen des Olympiſchen Jupiters zu Rom ſtanden.

In der großen Einheit der Zeichnung ihrer Fuguren ſind die Knochen
und Muskeln wenig, Nerven und Adern aber gar nicht angedeutet: die
Knie, die Knoͤchel des Fußes, und eine Anzeige vom Ellenbogen zeigen
ſich erhaben, wie in der Natur. Der Ruͤcken iſt wegen der Saͤule, an
welche ihre Statuen aus einem Stuͤcke mit derſelben geſtellet ſind, nicht
ſichtbar. Der angefuͤhrte Antinous hat den Ruͤcken frey. Die wenig
ausſchweifende Umriſſe ihrer Figuren ſind zugleich eine Urſache der engen
und zuſammengezogenen Form derſelben, durch welche Petronius 3) den
Aegyptiſchen Stil in der Kunſt bedeutet. Es unterſcheiden ſich auch
Aegyptiſche, ſonderlich maͤnnliche Figuren, durch den ungewoͤhnlich ſchma-
len Leib uͤber der Huͤfte.

Dieſe angegebene Eigenſchaften und Kennzeichen des Aegyptiſchen
Stils, ſo wohl die Umſchreibung und die Formen in faſt geraden Linien,
als die wenige Andeutung der Knochen und Muskeln, leiden eine Aus-

nahme
1) Cic. de nat. deor. L. 2. c. 52.
2) v. Feſt. Dii Nixi.
3) Satyr. c. 2. p. 13. edit. Burm.
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[40/0090] I Theil. Zweytes Capitel. Palmen hoch in der Villa Albani, iſt die Weite von einem Fuße zum an- dern uͤber drey Palme. Die Arme haͤngen gerade herunter laͤngſt den Seiten, an welche ſie, wie feſt angedruͤcket, vereinigt liegen, und folglich haben dergleichen Figuren gar keine Handlung, welche durch Bewegung der Arme und der Haͤnde ausgedrucket wird. Dieſe Unbeweglichkeit der- ſelben iſt ein Beweis, nicht der Ungeſchicklichkeit ihrer Kuͤnſtler, ſondern von einer in Statuen geſetzten und angenommenen Regel, nach welcher ſie, wie nach einem und eben demſelben Muſter, gearbeitet haben: denn die Handlung, welche ſie ihren Figuren gegeben, zeiget ſich an Obelisken, und auf andern Werken. Verſchiedene Figuren ſitzen auf untergeſchlagenen Beinen, oder auf dem Knie, welche man daher Engonaſes 1) nennen koͤnnte, und in dieſer Stellung waren die drey Dii Nixi, 2) welche vor den drey Capellen des Olympiſchen Jupiters zu Rom ſtanden. In der großen Einheit der Zeichnung ihrer Fuguren ſind die Knochen und Muskeln wenig, Nerven und Adern aber gar nicht angedeutet: die Knie, die Knoͤchel des Fußes, und eine Anzeige vom Ellenbogen zeigen ſich erhaben, wie in der Natur. Der Ruͤcken iſt wegen der Saͤule, an welche ihre Statuen aus einem Stuͤcke mit derſelben geſtellet ſind, nicht ſichtbar. Der angefuͤhrte Antinous hat den Ruͤcken frey. Die wenig ausſchweifende Umriſſe ihrer Figuren ſind zugleich eine Urſache der engen und zuſammengezogenen Form derſelben, durch welche Petronius 3) den Aegyptiſchen Stil in der Kunſt bedeutet. Es unterſcheiden ſich auch Aegyptiſche, ſonderlich maͤnnliche Figuren, durch den ungewoͤhnlich ſchma- len Leib uͤber der Huͤfte. Dieſe angegebene Eigenſchaften und Kennzeichen des Aegyptiſchen Stils, ſo wohl die Umſchreibung und die Formen in faſt geraden Linien, als die wenige Andeutung der Knochen und Muskeln, leiden eine Aus- nahme 1) Cic. de nat. deor. L. 2. c. 52. 2) v. Feſt. Dii Nixi. 3) Satyr. c. 2. p. 13. edit. Burm.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/90>, abgerufen am 26.04.2024.