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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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man deßwegen dem Hunger und der Brunst eine Ein-
sicht in das Zukünftige zu? nämlich eine Absicht, daß
der Magen die Speisen verdauen, und dadurch
Leben und Kräften erhalten soll, oder daß das
Geschlecht durch die Begattung solle fortgepflanzt wer-
den? Nein, das Thier folgt seinen blinden Empfin-
dungen. Daß beyderley Empfindungen und Handlun-
gen dem Thier und seinem Geschlecht künftig Nutzen
schaffen, ist keine Einsicht, die man den Thieren zu-
schreibt, oder die in der blinden Empfindung steckte;
sondern eine Einsicht des Schöpfers, der auch die
schlechtesten Triebfedern blinder Empfindungen, ohne
der Thiere Wissen, so eingerichtet hat, daß sie in Zu-
kunft zur Erhaltung und zum Wohl jeder einzelnen
Thieren und ganzen Geschlechter, bis in die späte-
sten Zeiten, dienen sollen und müssen." Eben so
wenig nennt er die innere Empfindung von Waffen,
die noch nicht zugegen sind, eine Vorhersehung; son-
dern einen Trieb, der mit dem stärkern Zufluß der
Säfte an diesen Ort hin entsteht.

Alles, was der Schöpfer mit diesen innern
Empfindungen verbunden hat, und verbinden mußte,
ist dieses: daß Er dadurch jedesmal den Menschen
und das Thier auf dasjenige hinweiset, was dem ge-
genwärtigen Bedürfniß Genüge leisten kann. Daher
ist mit der Empfindung des Hungers und des Durstes
nicht die Lust zum Tanze und zur Liebe, sondern die
Begierde zu Speiß und Trank, mit dem Bedürfniß
der Begattung nicht der Hang zum Selbstmorde, son-
dern der Geschlechtstrieb verbunden. Daher ist es auch

zu

man deßwegen dem Hunger und der Brunſt eine Ein-
ſicht in das Zukuͤnftige zu? naͤmlich eine Abſicht, daß
der Magen die Speiſen verdauen, und dadurch
Leben und Kraͤften erhalten ſoll, oder daß das
Geſchlecht durch die Begattung ſolle fortgepflanzt wer-
den? Nein, das Thier folgt ſeinen blinden Empfin-
dungen. Daß beyderley Empfindungen und Handlun-
gen dem Thier und ſeinem Geſchlecht kuͤnftig Nutzen
ſchaffen, iſt keine Einſicht, die man den Thieren zu-
ſchreibt, oder die in der blinden Empfindung ſteckte;
ſondern eine Einſicht des Schoͤpfers, der auch die
ſchlechteſten Triebfedern blinder Empfindungen, ohne
der Thiere Wiſſen, ſo eingerichtet hat, daß ſie in Zu-
kunft zur Erhaltung und zum Wohl jeder einzelnen
Thieren und ganzen Geſchlechter, bis in die ſpaͤte-
ſten Zeiten, dienen ſollen und muͤſſen.„ Eben ſo
wenig nennt er die innere Empfindung von Waffen,
die noch nicht zugegen ſind, eine Vorherſehung; ſon-
dern einen Trieb, der mit dem ſtaͤrkern Zufluß der
Saͤfte an dieſen Ort hin entſteht.

Alles, was der Schoͤpfer mit dieſen innern
Empfindungen verbunden hat, und verbinden mußte,
iſt dieſes: daß Er dadurch jedesmal den Menſchen
und das Thier auf dasjenige hinweiſet, was dem ge-
genwaͤrtigen Beduͤrfniß Genuͤge leiſten kann. Daher
iſt mit der Empfindung des Hungers und des Durſtes
nicht die Luſt zum Tanze und zur Liebe, ſondern die
Begierde zu Speiß und Trank, mit dem Beduͤrfniß
der Begattung nicht der Hang zum Selbſtmorde, ſon-
dern der Geſchlechtstrieb verbunden. Daher iſt es auch

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[46/0065] man deßwegen dem Hunger und der Brunſt eine Ein- ſicht in das Zukuͤnftige zu? naͤmlich eine Abſicht, daß der Magen die Speiſen verdauen, und dadurch Leben und Kraͤften erhalten ſoll, oder daß das Geſchlecht durch die Begattung ſolle fortgepflanzt wer- den? Nein, das Thier folgt ſeinen blinden Empfin- dungen. Daß beyderley Empfindungen und Handlun- gen dem Thier und ſeinem Geſchlecht kuͤnftig Nutzen ſchaffen, iſt keine Einſicht, die man den Thieren zu- ſchreibt, oder die in der blinden Empfindung ſteckte; ſondern eine Einſicht des Schoͤpfers, der auch die ſchlechteſten Triebfedern blinder Empfindungen, ohne der Thiere Wiſſen, ſo eingerichtet hat, daß ſie in Zu- kunft zur Erhaltung und zum Wohl jeder einzelnen Thieren und ganzen Geſchlechter, bis in die ſpaͤte- ſten Zeiten, dienen ſollen und muͤſſen.„ Eben ſo wenig nennt er die innere Empfindung von Waffen, die noch nicht zugegen ſind, eine Vorherſehung; ſon- dern einen Trieb, der mit dem ſtaͤrkern Zufluß der Saͤfte an dieſen Ort hin entſteht. Alles, was der Schoͤpfer mit dieſen innern Empfindungen verbunden hat, und verbinden mußte, iſt dieſes: daß Er dadurch jedesmal den Menſchen und das Thier auf dasjenige hinweiſet, was dem ge- genwaͤrtigen Beduͤrfniß Genuͤge leiſten kann. Daher iſt mit der Empfindung des Hungers und des Durſtes nicht die Luſt zum Tanze und zur Liebe, ſondern die Begierde zu Speiß und Trank, mit dem Beduͤrfniß der Begattung nicht der Hang zum Selbſtmorde, ſon- dern der Geſchlechtstrieb verbunden. Daher iſt es auch zu

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/65>, abgerufen am 26.04.2024.