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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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I. Erfahrung und Denken.
es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen,
dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken -- oder
Empirie und Spekulation -- als gleichberechtigte und sich
gegenseitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden
sind. Die Philosophen haben allmählich eingesehen, daß die reine
Spekulation, wie sie z. B. Plato und Hegel zur idealen
Welt-Construction benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht aus-
reicht. Und ebenso haben sich anderseits die Naturforscher
überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie sie z. B. Baco und
Mill zur Grundlage der realen Weltanschauung erhoben, für
deren Vollendung allein ungenügend ist. Denn die zwei großen
Erkenntniß-Wege, die sinnliche Erfahrung und das vernünftige
Denken, sind zwei verschiedene Gehirn-Functionen;
die erstere wird durch die Sinnesorgane und die centralen
Sinnesherde, die letztere durch die dazwischen liegenden Denk-
herde, die großen "Associons-Centren der Großhirnrinde" ver-
mittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erst durch die vereinigte
Thätigkeit beider entsteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt
es auch heute noch manche Philosophen, welche die Welt bloß
aus ihrem Kopfe construiren wollen, und welche die empirische
Naturerkenntniß schon deßhalb verschmähen, weil sie die wirkliche
Welt nicht kennen. Anderseits behaupten auch heute noch manche
Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft das
"thatsächliche Wissen, die objektive Erforschung der einzelnen
Natur-Erscheinungen sei"; das "Zeitalter der Philosophie" sei
vorüber, und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten *).
Diese einseitige Ueberschätzung der Empirie ist ebenso ein gefähr-
licher Irrthum wie jene entgegengesetzte der Spekulation. Beide
Erkenntniß-Wege sind sich gegenseitig unentbehrlich. Die größten


*) Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und
der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeit-
alter. Berlin 1893.

I. Erfahrung und Denken.
es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen,
dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken — oder
Empirie und Spekulation — als gleichberechtigte und ſich
gegenſeitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden
ſind. Die Philoſophen haben allmählich eingeſehen, daß die reine
Spekulation, wie ſie z. B. Plato und Hegel zur idealen
Welt-Conſtruction benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht aus-
reicht. Und ebenſo haben ſich anderſeits die Naturforſcher
überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie ſie z. B. Baco und
Mill zur Grundlage der realen Weltanſchauung erhoben, für
deren Vollendung allein ungenügend iſt. Denn die zwei großen
Erkenntniß-Wege, die ſinnliche Erfahrung und das vernünftige
Denken, ſind zwei verſchiedene Gehirn-Functionen;
die erſtere wird durch die Sinnesorgane und die centralen
Sinnesherde, die letztere durch die dazwiſchen liegenden Denk-
herde, die großen „Aſſocions-Centren der Großhirnrinde“ ver-
mittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erſt durch die vereinigte
Thätigkeit beider entſteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt
es auch heute noch manche Philoſophen, welche die Welt bloß
aus ihrem Kopfe conſtruiren wollen, und welche die empiriſche
Naturerkenntniß ſchon deßhalb verſchmähen, weil ſie die wirkliche
Welt nicht kennen. Anderſeits behaupten auch heute noch manche
Naturforſcher, daß die einzige Aufgabe der Wiſſenſchaft das
„thatſächliche Wiſſen, die objektive Erforſchung der einzelnen
Natur-Erſcheinungen ſei“; das „Zeitalter der Philoſophie“ ſei
vorüber, und an ihre Stelle ſei die Naturwiſſenſchaft getreten *).
Dieſe einſeitige Ueberſchätzung der Empirie iſt ebenſo ein gefähr-
licher Irrthum wie jene entgegengeſetzte der Spekulation. Beide
Erkenntniß-Wege ſind ſich gegenſeitig unentbehrlich. Die größten


*) Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Univerſität und
der Uebergang aus dem philoſophiſchen in das naturwiſſenſchaftliche Zeit-
alter. Berlin 1893.
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[21/0037] I. Erfahrung und Denken. es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen, dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken — oder Empirie und Spekulation — als gleichberechtigte und ſich gegenſeitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden ſind. Die Philoſophen haben allmählich eingeſehen, daß die reine Spekulation, wie ſie z. B. Plato und Hegel zur idealen Welt-Conſtruction benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht aus- reicht. Und ebenſo haben ſich anderſeits die Naturforſcher überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie ſie z. B. Baco und Mill zur Grundlage der realen Weltanſchauung erhoben, für deren Vollendung allein ungenügend iſt. Denn die zwei großen Erkenntniß-Wege, die ſinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, ſind zwei verſchiedene Gehirn-Functionen; die erſtere wird durch die Sinnesorgane und die centralen Sinnesherde, die letztere durch die dazwiſchen liegenden Denk- herde, die großen „Aſſocions-Centren der Großhirnrinde“ ver- mittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erſt durch die vereinigte Thätigkeit beider entſteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt es auch heute noch manche Philoſophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe conſtruiren wollen, und welche die empiriſche Naturerkenntniß ſchon deßhalb verſchmähen, weil ſie die wirkliche Welt nicht kennen. Anderſeits behaupten auch heute noch manche Naturforſcher, daß die einzige Aufgabe der Wiſſenſchaft das „thatſächliche Wiſſen, die objektive Erforſchung der einzelnen Natur-Erſcheinungen ſei“; das „Zeitalter der Philoſophie“ ſei vorüber, und an ihre Stelle ſei die Naturwiſſenſchaft getreten *). Dieſe einſeitige Ueberſchätzung der Empirie iſt ebenſo ein gefähr- licher Irrthum wie jene entgegengeſetzte der Spekulation. Beide Erkenntniß-Wege ſind ſich gegenſeitig unentbehrlich. Die größten *) Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Univerſität und der Uebergang aus dem philoſophiſchen in das naturwiſſenſchaftliche Zeit- alter. Berlin 1893.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/37>, abgerufen am 26.04.2024.