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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. I. B. II. Hauptst. Von dem Begriffe
wird; aber alles überhaupt kommt darauf doch nicht
an. Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er
zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft
allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von
Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben
zu bekümmern und sich practische Maximen, auch in
Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und, wo möglich,
auch eines zukünftigen Lebens, zu machen. Aber er
ist doch nicht so ganz Thier, um gegen alles, was Ver-
nunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu seyn, und diese
blos zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürf-
nisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen. Denn im
Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn das gar
nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum
Behuf desjenigen dienen soll, was bey Thieren der In-
stinct verrichtet; sie wäre alsdenn nur eine besondere
Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den
Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Thiere bestimmt
hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke
zu bestimmen. Er bedarf also freylich, nach dieser
einmal mit ihm getroffenen Naturanstalt, Vernunft,
um sein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu
ziehen, aber er hat sie überdem noch zu einem höheren
Behuf, nemlich auch das, was an sich gut oder böse
ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessirte
Vernunft nur allein urtheilen kann, nicht allein mit in
Ueberlegung zu nehmen, sondern diese Beurtheilung

von

I. Th. I. B. II. Hauptſt. Von dem Begriffe
wird; aber alles uͤberhaupt kommt darauf doch nicht
an. Der Menſch iſt ein beduͤrftiges Weſen, ſo fern er
zur Sinnenwelt gehoͤrt und ſo fern hat ſeine Vernunft
allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von
Seiten der Sinnlichkeit, ſich um das Intereſſe derſelben
zu bekuͤmmern und ſich practiſche Maximen, auch in
Abſicht auf die Gluͤckſeligkeit dieſes, und, wo moͤglich,
auch eines zukuͤnftigen Lebens, zu machen. Aber er
iſt doch nicht ſo ganz Thier, um gegen alles, was Ver-
nunft fuͤr ſich ſelbſt ſagt, gleichguͤltig zu ſeyn, und dieſe
blos zum Werkzeuge der Befriedigung ſeines Beduͤrf-
niſſes, als Sinnenweſens, zu gebrauchen. Denn im
Werthe uͤber die bloße Thierheit erhebt ihn das gar
nicht, daß er Vernunft hat, wenn ſie ihm nur zum
Behuf desjenigen dienen ſoll, was bey Thieren der In-
ſtinct verrichtet; ſie waͤre alsdenn nur eine beſondere
Manier, deren ſich die Natur bedient haͤtte, um den
Menſchen zu demſelben Zwecke, dazu ſie Thiere beſtimmt
hat, auszuruͤſten, ohne ihn zu einem hoͤheren Zwecke
zu beſtimmen. Er bedarf alſo freylich, nach dieſer
einmal mit ihm getroffenen Naturanſtalt, Vernunft,
um ſein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu
ziehen, aber er hat ſie uͤberdem noch zu einem hoͤheren
Behuf, nemlich auch das, was an ſich gut oder boͤſe
iſt, und woruͤber reine, ſinnlich gar nicht intereſſirte
Vernunft nur allein urtheilen kann, nicht allein mit in
Ueberlegung zu nehmen, ſondern dieſe Beurtheilung

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[108/0116] I. Th. I. B. II. Hauptſt. Von dem Begriffe wird; aber alles uͤberhaupt kommt darauf doch nicht an. Der Menſch iſt ein beduͤrftiges Weſen, ſo fern er zur Sinnenwelt gehoͤrt und ſo fern hat ſeine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, ſich um das Intereſſe derſelben zu bekuͤmmern und ſich practiſche Maximen, auch in Abſicht auf die Gluͤckſeligkeit dieſes, und, wo moͤglich, auch eines zukuͤnftigen Lebens, zu machen. Aber er iſt doch nicht ſo ganz Thier, um gegen alles, was Ver- nunft fuͤr ſich ſelbſt ſagt, gleichguͤltig zu ſeyn, und dieſe blos zum Werkzeuge der Befriedigung ſeines Beduͤrf- niſſes, als Sinnenweſens, zu gebrauchen. Denn im Werthe uͤber die bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn ſie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen ſoll, was bey Thieren der In- ſtinct verrichtet; ſie waͤre alsdenn nur eine beſondere Manier, deren ſich die Natur bedient haͤtte, um den Menſchen zu demſelben Zwecke, dazu ſie Thiere beſtimmt hat, auszuruͤſten, ohne ihn zu einem hoͤheren Zwecke zu beſtimmen. Er bedarf alſo freylich, nach dieſer einmal mit ihm getroffenen Naturanſtalt, Vernunft, um ſein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu ziehen, aber er hat ſie uͤberdem noch zu einem hoͤheren Behuf, nemlich auch das, was an ſich gut oder boͤſe iſt, und woruͤber reine, ſinnlich gar nicht intereſſirte Vernunft nur allein urtheilen kann, nicht allein mit in Ueberlegung zu nehmen, ſondern dieſe Beurtheilung von

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/116>, abgerufen am 27.04.2024.