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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. I. B. III. Hauptst. Von den Triebfedern
kann auch auf Sachen gehen, z. B. himmelhohe Berge,
die Größe, Menge und Weite der Weltkörper, die
Stärke und Geschwindigkeit mancher Thiere, u. s. w.
Aber alles dieses ist nicht Achtung. Ein Mensch kann
mir auch ein Gegenstand der Liebe, der Furcht, oder
der Bewunderung, so gar bis zum Erstaunen und doch
darum kein Gegenstand der Achtung seyn. Seine
scherzhafte Laune, sein Muth und Stärke, seine Macht,
durch seinen Rang, den er unter anderen hat, können
mir dergleichen Empfindungen einflößen, es fehlt aber
immer noch an innerer Achtung gegen ihn. Fontenelle
sagt: vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber
mein Geist bückt sich nicht
Ich kann hinzu setzen:
vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann, an
dem ich eine Rechtschaffenheit des Characters in einem
gewissen Maaße, als ich mir von mir selbst nicht be-
wußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich
mag wollen oder nicht, und den Kopf noch so hoch
tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu
lassen. Warum das? Sein Beyspiel hält mir ein
Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn
ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen
Befolgung, mithin die Thunlichkeit desselben, ich
durch die That bewiesen vor mir sehe. Nun mag ich
mir sogar eines gleichen Grades der Rechtschaffenheit
bewußt seyn, und die Achtung bleibt doch. Denn, da
beym Menschen immer alles Gute mangelhaft ist, so

schlägt

I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern
kann auch auf Sachen gehen, z. B. himmelhohe Berge,
die Groͤße, Menge und Weite der Weltkoͤrper, die
Staͤrke und Geſchwindigkeit mancher Thiere, u. ſ. w.
Aber alles dieſes iſt nicht Achtung. Ein Menſch kann
mir auch ein Gegenſtand der Liebe, der Furcht, oder
der Bewunderung, ſo gar bis zum Erſtaunen und doch
darum kein Gegenſtand der Achtung ſeyn. Seine
ſcherzhafte Laune, ſein Muth und Staͤrke, ſeine Macht,
durch ſeinen Rang, den er unter anderen hat, koͤnnen
mir dergleichen Empfindungen einfloͤßen, es fehlt aber
immer noch an innerer Achtung gegen ihn. Fontenelle
ſagt: vor einem Vornehmen buͤcke ich mich, aber
mein Geiſt buͤckt ſich nicht
Ich kann hinzu ſetzen:
vor einem niedrigen, buͤrgerlich-gemeinen Mann, an
dem ich eine Rechtſchaffenheit des Characters in einem
gewiſſen Maaße, als ich mir von mir ſelbſt nicht be-
wußt bin, wahrnehme, buͤckt ſich mein Geiſt, ich
mag wollen oder nicht, und den Kopf noch ſo hoch
tragen, um ihn meinen Vorrang nicht uͤberſehen zu
laſſen. Warum das? Sein Beyſpiel haͤlt mir ein
Geſetz vor, das meinen Eigenduͤnkel niederſchlaͤgt, wenn
ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und deſſen
Befolgung, mithin die Thunlichkeit deſſelben, ich
durch die That bewieſen vor mir ſehe. Nun mag ich
mir ſogar eines gleichen Grades der Rechtſchaffenheit
bewußt ſeyn, und die Achtung bleibt doch. Denn, da
beym Menſchen immer alles Gute mangelhaft iſt, ſo

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[136/0144] I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern kann auch auf Sachen gehen, z. B. himmelhohe Berge, die Groͤße, Menge und Weite der Weltkoͤrper, die Staͤrke und Geſchwindigkeit mancher Thiere, u. ſ. w. Aber alles dieſes iſt nicht Achtung. Ein Menſch kann mir auch ein Gegenſtand der Liebe, der Furcht, oder der Bewunderung, ſo gar bis zum Erſtaunen und doch darum kein Gegenſtand der Achtung ſeyn. Seine ſcherzhafte Laune, ſein Muth und Staͤrke, ſeine Macht, durch ſeinen Rang, den er unter anderen hat, koͤnnen mir dergleichen Empfindungen einfloͤßen, es fehlt aber immer noch an innerer Achtung gegen ihn. Fontenelle ſagt: vor einem Vornehmen buͤcke ich mich, aber mein Geiſt buͤckt ſich nicht Ich kann hinzu ſetzen: vor einem niedrigen, buͤrgerlich-gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtſchaffenheit des Characters in einem gewiſſen Maaße, als ich mir von mir ſelbſt nicht be- wußt bin, wahrnehme, buͤckt ſich mein Geiſt, ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch ſo hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht uͤberſehen zu laſſen. Warum das? Sein Beyſpiel haͤlt mir ein Geſetz vor, das meinen Eigenduͤnkel niederſchlaͤgt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und deſſen Befolgung, mithin die Thunlichkeit deſſelben, ich durch die That bewieſen vor mir ſehe. Nun mag ich mir ſogar eines gleichen Grades der Rechtſchaffenheit bewußt ſeyn, und die Achtung bleibt doch. Denn, da beym Menſchen immer alles Gute mangelhaft iſt, ſo ſchlaͤgt

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/144>, abgerufen am 26.04.2024.