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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik
tergeordnet ist. Einem jeden Vermögen des Gemüths
kann man ein Interesse beylegen, d. i. ein Princip,
welches die Bedingung enthält, unter welcher allein
die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft,
als das Vermögen der Principien, bestimmt das In-
teresse aller Gemüthskräfte, das ihrige aber sich selbst.
Das Interesse ihres speculativen Gebrauchs besteht in
der Erkenntniß des Objects bis zu den höchsten Prin-
cipien a pri ri, das des practischen Gebrauchs in der
Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und
vollständigen Zwecks. Das, was zur Möglichkeit eines
Vernunftgebrauchs überhaupt erfoderlich ist, nemlich
daß die Principien und Behauptungen derselben einan-
der nicht widersprechen müssen, macht keinen Theil ih-
res Interesse aus, sondern ist die Bedingung überhaupt
Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die
bloße Zusammenstimmung mit sich selbst, wird zum In-
teresse derselben gezählt.

Wenn practische Vernunft nichts weiter annehmen
und als gegeben denken darf, als was speculative Ver-
nunft für sich, ihr aus ihrer Einsicht darreichen konnte,
so führt diese das Primat. Gesetzt aber, sie hätte für
sich ursprüngliche Principien a priori, mit denen gewisse
theoretische Positionen unzertrennlich verbunden wären,
die sich gleichwol aller möglichen Einsicht der speculati-
ven Vernunft entzögen, (ob sie zwar derselben auch
nicht widersprechen müßten) so ist die Frage, welches

In-

I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
tergeordnet iſt. Einem jeden Vermoͤgen des Gemuͤths
kann man ein Intereſſe beylegen, d. i. ein Princip,
welches die Bedingung enthaͤlt, unter welcher allein
die Ausuͤbung deſſelben befoͤrdert wird. Die Vernunft,
als das Vermoͤgen der Principien, beſtimmt das In-
tereſſe aller Gemuͤthskraͤfte, das ihrige aber ſich ſelbſt.
Das Intereſſe ihres ſpeculativen Gebrauchs beſteht in
der Erkenntniß des Objects bis zu den hoͤchſten Prin-
cipien a pri ri, das des practiſchen Gebrauchs in der
Beſtimmung des Willens, in Anſehung des letzten und
vollſtaͤndigen Zwecks. Das, was zur Moͤglichkeit eines
Vernunftgebrauchs uͤberhaupt erfoderlich iſt, nemlich
daß die Principien und Behauptungen derſelben einan-
der nicht widerſprechen muͤſſen, macht keinen Theil ih-
res Intereſſe aus, ſondern iſt die Bedingung uͤberhaupt
Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die
bloße Zuſammenſtimmung mit ſich ſelbſt, wird zum In-
tereſſe derſelben gezaͤhlt.

Wenn practiſche Vernunft nichts weiter annehmen
und als gegeben denken darf, als was ſpeculative Ver-
nunft fuͤr ſich, ihr aus ihrer Einſicht darreichen konnte,
ſo fuͤhrt dieſe das Primat. Geſetzt aber, ſie haͤtte fuͤr
ſich urſpruͤngliche Principien a priori, mit denen gewiſſe
theoretiſche Poſitionen unzertrennlich verbunden waͤren,
die ſich gleichwol aller moͤglichen Einſicht der ſpeculati-
ven Vernunft entzoͤgen, (ob ſie zwar derſelben auch
nicht widerſprechen muͤßten) ſo iſt die Frage, welches

In-
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[216/0224] I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik tergeordnet iſt. Einem jeden Vermoͤgen des Gemuͤths kann man ein Intereſſe beylegen, d. i. ein Princip, welches die Bedingung enthaͤlt, unter welcher allein die Ausuͤbung deſſelben befoͤrdert wird. Die Vernunft, als das Vermoͤgen der Principien, beſtimmt das In- tereſſe aller Gemuͤthskraͤfte, das ihrige aber ſich ſelbſt. Das Intereſſe ihres ſpeculativen Gebrauchs beſteht in der Erkenntniß des Objects bis zu den hoͤchſten Prin- cipien a pri ri, das des practiſchen Gebrauchs in der Beſtimmung des Willens, in Anſehung des letzten und vollſtaͤndigen Zwecks. Das, was zur Moͤglichkeit eines Vernunftgebrauchs uͤberhaupt erfoderlich iſt, nemlich daß die Principien und Behauptungen derſelben einan- der nicht widerſprechen muͤſſen, macht keinen Theil ih- res Intereſſe aus, ſondern iſt die Bedingung uͤberhaupt Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die bloße Zuſammenſtimmung mit ſich ſelbſt, wird zum In- tereſſe derſelben gezaͤhlt. Wenn practiſche Vernunft nichts weiter annehmen und als gegeben denken darf, als was ſpeculative Ver- nunft fuͤr ſich, ihr aus ihrer Einſicht darreichen konnte, ſo fuͤhrt dieſe das Primat. Geſetzt aber, ſie haͤtte fuͤr ſich urſpruͤngliche Principien a priori, mit denen gewiſſe theoretiſche Poſitionen unzertrennlich verbunden waͤren, die ſich gleichwol aller moͤglichen Einſicht der ſpeculati- ven Vernunft entzoͤgen, (ob ſie zwar derſelben auch nicht widerſprechen muͤßten) ſo iſt die Frage, welches In-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/224>, abgerufen am 26.04.2024.