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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik
ben, um die wichtigsten Aufgaben, die ihr vorgelegt
werden, dem Zwecke angemessen aufzulösen, ob sie zwar
die natürlichen und nicht zu übersehenden Winke eben
derselben Vernunft, imgleichen die großen Schritte, die
sie thun kann, nicht verkennt, um sich diesem großen
Ziele, das ihr ausgesteckt ist, zu näheren, aber doch,
ohne es jemals für sich selbst, sogar mit Beyhülfe der
größten Naturkenntniß, zu erreichen. Also scheint die
Natur hier uns nur stiefmütterlich mit einem zu un-
serem Zwecke benöthigten Vermögen versorgt zu haben.

Gesetzt nun, sie wäre hierin unserem Wunsche
willfährig gewesen, und hätte uns diejenige Einsichts-
fähigkeit, oder Erleuchtung ertheilt, die wir gerne be-
sitzen möchten, oder in deren Besitz einige wol gar
wähnen sich wirklich zu befinden, was würde allem
Ansehn nach wol die Folge hievon seyn? Wofern nicht
zugleich unsere ganze Natur umgeändert wäre, so würden
die Neigungen, die doch allemal das erste Wort haben,
zuerst ihre Befriedigung, und, mit vernünftiger Ueber-
legung verbunden, ihre größtmögliche und daurende
Befriedigung, unter dem Namen der Glückseligkeit,
verlangen; das moralische Gesetz würde nachher spre-
chen, um jene in ihren geziemenden Schranken zu hal-
ten, und sogar sie alle insgesamt einem höheren, auf
keine Neigung Rücksicht nehmenden, Zwecke zu unter-
werfen. Aber, statt des Streits, den jetzt die mora-
lische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in

welchem,

I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
ben, um die wichtigſten Aufgaben, die ihr vorgelegt
werden, dem Zwecke angemeſſen aufzuloͤſen, ob ſie zwar
die natuͤrlichen und nicht zu uͤberſehenden Winke eben
derſelben Vernunft, imgleichen die großen Schritte, die
ſie thun kann, nicht verkennt, um ſich dieſem großen
Ziele, das ihr ausgeſteckt iſt, zu naͤheren, aber doch,
ohne es jemals fuͤr ſich ſelbſt, ſogar mit Beyhuͤlfe der
groͤßten Naturkenntniß, zu erreichen. Alſo ſcheint die
Natur hier uns nur ſtiefmuͤtterlich mit einem zu un-
ſerem Zwecke benoͤthigten Vermoͤgen verſorgt zu haben.

Geſetzt nun, ſie waͤre hierin unſerem Wunſche
willfaͤhrig geweſen, und haͤtte uns diejenige Einſichts-
faͤhigkeit, oder Erleuchtung ertheilt, die wir gerne be-
ſitzen moͤchten, oder in deren Beſitz einige wol gar
waͤhnen ſich wirklich zu befinden, was wuͤrde allem
Anſehn nach wol die Folge hievon ſeyn? Wofern nicht
zugleich unſere ganze Natur umgeaͤndert waͤre, ſo wuͤrden
die Neigungen, die doch allemal das erſte Wort haben,
zuerſt ihre Befriedigung, und, mit vernuͤnftiger Ueber-
legung verbunden, ihre groͤßtmoͤgliche und daurende
Befriedigung, unter dem Namen der Gluͤckſeligkeit,
verlangen; das moraliſche Geſetz wuͤrde nachher ſpre-
chen, um jene in ihren geziemenden Schranken zu hal-
ten, und ſogar ſie alle insgeſamt einem hoͤheren, auf
keine Neigung Ruͤckſicht nehmenden, Zwecke zu unter-
werfen. Aber, ſtatt des Streits, den jetzt die mora-
liſche Geſinnung mit den Neigungen zu fuͤhren hat, in

welchem,
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[264/0272] I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik ben, um die wichtigſten Aufgaben, die ihr vorgelegt werden, dem Zwecke angemeſſen aufzuloͤſen, ob ſie zwar die natuͤrlichen und nicht zu uͤberſehenden Winke eben derſelben Vernunft, imgleichen die großen Schritte, die ſie thun kann, nicht verkennt, um ſich dieſem großen Ziele, das ihr ausgeſteckt iſt, zu naͤheren, aber doch, ohne es jemals fuͤr ſich ſelbſt, ſogar mit Beyhuͤlfe der groͤßten Naturkenntniß, zu erreichen. Alſo ſcheint die Natur hier uns nur ſtiefmuͤtterlich mit einem zu un- ſerem Zwecke benoͤthigten Vermoͤgen verſorgt zu haben. Geſetzt nun, ſie waͤre hierin unſerem Wunſche willfaͤhrig geweſen, und haͤtte uns diejenige Einſichts- faͤhigkeit, oder Erleuchtung ertheilt, die wir gerne be- ſitzen moͤchten, oder in deren Beſitz einige wol gar waͤhnen ſich wirklich zu befinden, was wuͤrde allem Anſehn nach wol die Folge hievon ſeyn? Wofern nicht zugleich unſere ganze Natur umgeaͤndert waͤre, ſo wuͤrden die Neigungen, die doch allemal das erſte Wort haben, zuerſt ihre Befriedigung, und, mit vernuͤnftiger Ueber- legung verbunden, ihre groͤßtmoͤgliche und daurende Befriedigung, unter dem Namen der Gluͤckſeligkeit, verlangen; das moraliſche Geſetz wuͤrde nachher ſpre- chen, um jene in ihren geziemenden Schranken zu hal- ten, und ſogar ſie alle insgeſamt einem hoͤheren, auf keine Neigung Ruͤckſicht nehmenden, Zwecke zu unter- werfen. Aber, ſtatt des Streits, den jetzt die mora- liſche Geſinnung mit den Neigungen zu fuͤhren hat, in welchem,

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/272>, abgerufen am 26.04.2024.