Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Abschnitt. III. Fragment.
Gifte einer Leidenschaft angefressen -- abscheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel sind in
der Menschen Augen, die das Schwert des Rächers strafen muß -- und die in Gottes Augen viel-
leicht unschuldig, vielleicht Tugend sind. -- Wer die Cenci sah -- war durch ihre Schönheit be-
zaubert! Jhr eigener Vater war's, und sie stieß dem Verfolger den Dolch ins Herz -- wer will da
von Laster sprechen, als der politische Richter? -- Der muß sie tödten -- indem er sie vielleicht
anbetet! Aber wer sie auch nicht anbetet, muß doch fühlen, daß sie, wenn sie auch nur so gut aus-
sah, als sie hier erscheint, nicht innerlich lasterhaft war -- zu rein und zu schwach war zu jedem
Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu schwach zu einer Greuelthat schamhafter Schwär-
merey! -- Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen dieser That ver-
wahren, als unverdorbener physiognomischer Sinn?

III.

Aber auch die Verstandeskräfte des Menschen kündigen sich dem menschlichen
Auge, dem allgemeinen Sinne der Menschen durch ihre Charaktere unmittelbar und
ohne alles Räsonniren und Abstrahiren an.
Gewiß, Verstandeskräfte, oder Dummheit in
Bewegung, in der Aktion. Eine sehr denkende Miene -- eine sehr aufmerksame -- ist sicherlich al-
len Menschenaugen auf den ersten Blick so erkennbar, als eine sehr undenkende, sehr unaufmerksa-
me. Man führe dem unerfahrensten Kinde, das nur so viel Verstand hat zu unterscheiden, was
weise und dumm ist, einem Kinde von sechs oder acht Jahren ein sehr weises oder ein sehr dummes
Gesicht in einer denkenden und undenkenden Stellung, wie es gewiß noch keine gesehen haben kann,
vor, oder man zeichne ihm aus der Jmagination ein erzdummes und ein weises Gesicht in einer Ak-
tion -- und frage: welches ist weise? welches dumm? Wenn es seiner Empfindung folgt -- wird es
so richtig urtheilen, als wenn ihr ihm eine sehr moralisch gute, und eine sehr moralisch schlimme
Handlung anschaulich genug zur Beurtheilung vorleget.

IV.

Und eben so gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, ist der Sinn für die Geistes-
kräfte in Ruhe;
sobald es gewiß ist, daß wenigstens gewisse extreme Linien allen Menschenau-
gen als weise oder dumm auf den ersten Blick erkennbar sind, so ist die Allgemeinheit auch dieses
Sinnes erwiesen. Denn wenn er nicht da wäre, so könnte er in keinem Falle allgemein seyn. Nun

ist

II. Abſchnitt. III. Fragment.
Gifte einer Leidenſchaft angefreſſen — abſcheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel ſind in
der Menſchen Augen, die das Schwert des Raͤchers ſtrafen muß — und die in Gottes Augen viel-
leicht unſchuldig, vielleicht Tugend ſind. — Wer die Cenci ſah — war durch ihre Schoͤnheit be-
zaubert! Jhr eigener Vater war’s, und ſie ſtieß dem Verfolger den Dolch ins Herz — wer will da
von Laſter ſprechen, als der politiſche Richter? — Der muß ſie toͤdten — indem er ſie vielleicht
anbetet! Aber wer ſie auch nicht anbetet, muß doch fuͤhlen, daß ſie, wenn ſie auch nur ſo gut aus-
ſah, als ſie hier erſcheint, nicht innerlich laſterhaft war — zu rein und zu ſchwach war zu jedem
Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu ſchwach zu einer Greuelthat ſchamhafter Schwaͤr-
merey! — Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen dieſer That ver-
wahren, als unverdorbener phyſiognomiſcher Sinn?

III.

Aber auch die Verſtandeskraͤfte des Menſchen kuͤndigen ſich dem menſchlichen
Auge, dem allgemeinen Sinne der Menſchen durch ihre Charaktere unmittelbar und
ohne alles Raͤſonniren und Abſtrahiren an.
Gewiß, Verſtandeskraͤfte, oder Dummheit in
Bewegung, in der Aktion. Eine ſehr denkende Miene — eine ſehr aufmerkſame — iſt ſicherlich al-
len Menſchenaugen auf den erſten Blick ſo erkennbar, als eine ſehr undenkende, ſehr unaufmerkſa-
me. Man fuͤhre dem unerfahrenſten Kinde, das nur ſo viel Verſtand hat zu unterſcheiden, was
weiſe und dumm iſt, einem Kinde von ſechs oder acht Jahren ein ſehr weiſes oder ein ſehr dummes
Geſicht in einer denkenden und undenkenden Stellung, wie es gewiß noch keine geſehen haben kann,
vor, oder man zeichne ihm aus der Jmagination ein erzdummes und ein weiſes Geſicht in einer Ak-
tion — und frage: welches iſt weiſe? welches dumm? Wenn es ſeiner Empfindung folgt — wird es
ſo richtig urtheilen, als wenn ihr ihm eine ſehr moraliſch gute, und eine ſehr moraliſch ſchlimme
Handlung anſchaulich genug zur Beurtheilung vorleget.

IV.

Und eben ſo gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, iſt der Sinn fuͤr die Geiſtes-
kraͤfte in Ruhe;
ſobald es gewiß iſt, daß wenigſtens gewiſſe extreme Linien allen Menſchenau-
gen als weiſe oder dumm auf den erſten Blick erkennbar ſind, ſo iſt die Allgemeinheit auch dieſes
Sinnes erwieſen. Denn wenn er nicht da waͤre, ſo koͤnnte er in keinem Falle allgemein ſeyn. Nun

iſt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0156" n="126"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">III.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
Gifte einer Leiden&#x017F;chaft angefre&#x017F;&#x017F;en &#x2014; ab&#x017F;cheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel &#x017F;ind in<lb/>
der Men&#x017F;chen Augen, die das Schwert des Ra&#x0364;chers &#x017F;trafen muß &#x2014; und die in Gottes Augen viel-<lb/>
leicht un&#x017F;chuldig, vielleicht Tugend &#x017F;ind. &#x2014; Wer die <hi rendition="#b">Cenci</hi> &#x017F;ah &#x2014; war durch ihre Scho&#x0364;nheit be-<lb/>
zaubert! Jhr eigener Vater war&#x2019;s, und &#x017F;ie &#x017F;tieß dem Verfolger den Dolch ins Herz &#x2014; wer will da<lb/>
von <hi rendition="#b">La&#x017F;ter</hi> &#x017F;prechen, als der <hi rendition="#b">politi&#x017F;che</hi> Richter? &#x2014; Der muß &#x017F;ie to&#x0364;dten &#x2014; indem er &#x017F;ie vielleicht<lb/>
anbetet! Aber wer &#x017F;ie auch nicht anbetet, muß doch fu&#x0364;hlen, daß &#x017F;ie, wenn &#x017F;ie auch nur &#x017F;o gut aus-<lb/>
&#x017F;ah, als &#x017F;ie hier er&#x017F;cheint, nicht innerlich la&#x017F;terhaft war &#x2014; zu rein und zu &#x017F;chwach war zu jedem<lb/>
Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu &#x017F;chwach zu einer Greuelthat &#x017F;chamhafter Schwa&#x0364;r-<lb/>
merey! &#x2014; Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen die&#x017F;er That ver-<lb/>
wahren, als unverdorbener phy&#x017F;iognomi&#x017F;cher Sinn?</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#aq">III.</hi> </head><lb/>
              <p><hi rendition="#b">Aber auch die Ver&#x017F;tandeskra&#x0364;fte des Men&#x017F;chen ku&#x0364;ndigen &#x017F;ich dem men&#x017F;chlichen<lb/>
Auge, dem allgemeinen Sinne der Men&#x017F;chen durch ihre Charaktere unmittelbar und<lb/>
ohne alles Ra&#x0364;&#x017F;onniren und Ab&#x017F;trahiren an.</hi> Gewiß, Ver&#x017F;tandeskra&#x0364;fte, oder Dummheit in<lb/>
Bewegung, in der Aktion. Eine &#x017F;ehr denkende Miene &#x2014; eine &#x017F;ehr aufmerk&#x017F;ame &#x2014; i&#x017F;t &#x017F;icherlich al-<lb/>
len Men&#x017F;chenaugen auf den er&#x017F;ten Blick &#x017F;o erkennbar, als eine &#x017F;ehr undenkende, &#x017F;ehr unaufmerk&#x017F;a-<lb/>
me. Man fu&#x0364;hre dem unerfahren&#x017F;ten Kinde, das nur &#x017F;o viel Ver&#x017F;tand hat zu unter&#x017F;cheiden, was<lb/><hi rendition="#b">wei&#x017F;e</hi> und <hi rendition="#b">dumm</hi> i&#x017F;t, einem Kinde von &#x017F;echs oder acht Jahren ein &#x017F;ehr wei&#x017F;es oder ein &#x017F;ehr dummes<lb/>
Ge&#x017F;icht in einer denkenden und undenkenden Stellung, wie es gewiß noch keine ge&#x017F;ehen haben kann,<lb/>
vor, oder man zeichne ihm aus der Jmagination ein erzdummes und ein wei&#x017F;es Ge&#x017F;icht in einer Ak-<lb/>
tion &#x2014; und frage: welches i&#x017F;t wei&#x017F;e? welches dumm? Wenn es &#x017F;einer Empfindung folgt &#x2014; wird es<lb/>
&#x017F;o richtig urtheilen, als wenn ihr ihm eine &#x017F;ehr morali&#x017F;ch gute, und eine &#x017F;ehr morali&#x017F;ch &#x017F;chlimme<lb/>
Handlung an&#x017F;chaulich genug zur Beurtheilung vorleget.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#aq">IV.</hi> </head><lb/>
              <p>Und eben &#x017F;o gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, i&#x017F;t der Sinn fu&#x0364;r die <hi rendition="#b">Gei&#x017F;tes-<lb/>
kra&#x0364;fte in Ruhe;</hi> &#x017F;obald es gewiß i&#x017F;t, daß wenig&#x017F;tens gewi&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#b">extreme Linien</hi> allen Men&#x017F;chenau-<lb/>
gen als wei&#x017F;e oder dumm auf den er&#x017F;ten Blick erkennbar &#x017F;ind, &#x017F;o i&#x017F;t die Allgemeinheit auch die&#x017F;es<lb/>
Sinnes erwie&#x017F;en. Denn wenn er nicht da wa&#x0364;re, &#x017F;o ko&#x0364;nnte er in keinem Falle allgemein &#x017F;eyn. Nun<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">i&#x017F;t</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0156] II. Abſchnitt. III. Fragment. Gifte einer Leidenſchaft angefreſſen — abſcheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel ſind in der Menſchen Augen, die das Schwert des Raͤchers ſtrafen muß — und die in Gottes Augen viel- leicht unſchuldig, vielleicht Tugend ſind. — Wer die Cenci ſah — war durch ihre Schoͤnheit be- zaubert! Jhr eigener Vater war’s, und ſie ſtieß dem Verfolger den Dolch ins Herz — wer will da von Laſter ſprechen, als der politiſche Richter? — Der muß ſie toͤdten — indem er ſie vielleicht anbetet! Aber wer ſie auch nicht anbetet, muß doch fuͤhlen, daß ſie, wenn ſie auch nur ſo gut aus- ſah, als ſie hier erſcheint, nicht innerlich laſterhaft war — zu rein und zu ſchwach war zu jedem Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu ſchwach zu einer Greuelthat ſchamhafter Schwaͤr- merey! — Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen dieſer That ver- wahren, als unverdorbener phyſiognomiſcher Sinn? III. Aber auch die Verſtandeskraͤfte des Menſchen kuͤndigen ſich dem menſchlichen Auge, dem allgemeinen Sinne der Menſchen durch ihre Charaktere unmittelbar und ohne alles Raͤſonniren und Abſtrahiren an. Gewiß, Verſtandeskraͤfte, oder Dummheit in Bewegung, in der Aktion. Eine ſehr denkende Miene — eine ſehr aufmerkſame — iſt ſicherlich al- len Menſchenaugen auf den erſten Blick ſo erkennbar, als eine ſehr undenkende, ſehr unaufmerkſa- me. Man fuͤhre dem unerfahrenſten Kinde, das nur ſo viel Verſtand hat zu unterſcheiden, was weiſe und dumm iſt, einem Kinde von ſechs oder acht Jahren ein ſehr weiſes oder ein ſehr dummes Geſicht in einer denkenden und undenkenden Stellung, wie es gewiß noch keine geſehen haben kann, vor, oder man zeichne ihm aus der Jmagination ein erzdummes und ein weiſes Geſicht in einer Ak- tion — und frage: welches iſt weiſe? welches dumm? Wenn es ſeiner Empfindung folgt — wird es ſo richtig urtheilen, als wenn ihr ihm eine ſehr moraliſch gute, und eine ſehr moraliſch ſchlimme Handlung anſchaulich genug zur Beurtheilung vorleget. IV. Und eben ſo gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, iſt der Sinn fuͤr die Geiſtes- kraͤfte in Ruhe; ſobald es gewiß iſt, daß wenigſtens gewiſſe extreme Linien allen Menſchenau- gen als weiſe oder dumm auf den erſten Blick erkennbar ſind, ſo iſt die Allgemeinheit auch dieſes Sinnes erwieſen. Denn wenn er nicht da waͤre, ſo koͤnnte er in keinem Falle allgemein ſeyn. Nun iſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/156
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/156>, abgerufen am 26.04.2024.