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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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gen Gegensatz in der Politik, und man sieht sie den
Menschen wie den Büchern gewöhnlich auf den ersten
Blick an. Wohin wir im politischen Gebiet das
Auge werfen, trifft es diese Farben an. Sie füllen
es ganz aus, hinter ihnen ist leerer Raum.

Die liberale Partei ist diejenige, die den politi¬
schen Charakter der neuern Zeit bestimmt, während
die sogenannte servile Partei noch wesentlich im Cha¬
rakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus
schreitet daher in demselben Maaße fort, wie die
Zeit selbst, oder ist in dem Maaße gehemmt, wie die
Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert.
Er entspricht dem Protestantismus, sofern er gegen
das Mittelalter protestirt, er ist nur eine neue Ent¬
wicklung des Protestantismus im weltlichen Sinn,
wie der Protestantismus ein geistlicher Liberalismus
war. Er hat seine Partei in dem gebildeten Mittel¬
stande, während der Servilismus die seinige in den
Vornehmen und in der rohen Masse findet. Dieser
Mittelstand schmilzt allmählig immer mehr die starren
Kristallisationen der mittelalterlichen Stände zusam¬
men. Die ganze neuere Bildung ist aus dem Libera¬
lismus hervorgegangen oder hat ihm gedient, sie war
die Befreiung von dem kirchlichen Autoritätsglauben.
Die ganze Literatur ist ein Triumph des Liberalis¬
mus, denn seine Feinde sogar müssen mit seinen Waf¬
fen fechten. Alle Gelehrte, alle Dichter haben ihm
Vorschub geleistet, seinen größten Philosophen aber

gen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht ſie den
Menſchen wie den Buͤchern gewoͤhnlich auf den erſten
Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das
Auge werfen, trifft es dieſe Farben an. Sie fuͤllen
es ganz aus, hinter ihnen iſt leerer Raum.

Die liberale Partei iſt diejenige, die den politi¬
ſchen Charakter der neuern Zeit beſtimmt, waͤhrend
die ſogenannte ſervile Partei noch weſentlich im Cha¬
rakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus
ſchreitet daher in demſelben Maaße fort, wie die
Zeit ſelbſt, oder iſt in dem Maaße gehemmt, wie die
Vergangenheit noch in die Gegenwart heruͤber dauert.
Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen
das Mittelalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Ent¬
wicklung des Proteſtantismus im weltlichen Sinn,
wie der Proteſtantismus ein geiſtlicher Liberalismus
war. Er hat ſeine Partei in dem gebildeten Mittel¬
ſtande, waͤhrend der Servilismus die ſeinige in den
Vornehmen und in der rohen Maſſe findet. Dieſer
Mittelſtand ſchmilzt allmaͤhlig immer mehr die ſtarren
Kriſtalliſationen der mittelalterlichen Staͤnde zuſam¬
men. Die ganze neuere Bildung iſt aus dem Libera¬
lismus hervorgegangen oder hat ihm gedient, ſie war
die Befreiung von dem kirchlichen Autoritaͤtsglauben.
Die ganze Literatur iſt ein Triumph des Liberalis¬
mus, denn ſeine Feinde ſogar muͤſſen mit ſeinen Waf¬
fen fechten. Alle Gelehrte, alle Dichter haben ihm
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[223/0233] gen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht ſie den Menſchen wie den Buͤchern gewoͤhnlich auf den erſten Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das Auge werfen, trifft es dieſe Farben an. Sie fuͤllen es ganz aus, hinter ihnen iſt leerer Raum. Die liberale Partei iſt diejenige, die den politi¬ ſchen Charakter der neuern Zeit beſtimmt, waͤhrend die ſogenannte ſervile Partei noch weſentlich im Cha¬ rakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus ſchreitet daher in demſelben Maaße fort, wie die Zeit ſelbſt, oder iſt in dem Maaße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart heruͤber dauert. Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen das Mittelalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Ent¬ wicklung des Proteſtantismus im weltlichen Sinn, wie der Proteſtantismus ein geiſtlicher Liberalismus war. Er hat ſeine Partei in dem gebildeten Mittel¬ ſtande, waͤhrend der Servilismus die ſeinige in den Vornehmen und in der rohen Maſſe findet. Dieſer Mittelſtand ſchmilzt allmaͤhlig immer mehr die ſtarren Kriſtalliſationen der mittelalterlichen Staͤnde zuſam¬ men. Die ganze neuere Bildung iſt aus dem Libera¬ lismus hervorgegangen oder hat ihm gedient, ſie war die Befreiung von dem kirchlichen Autoritaͤtsglauben. Die ganze Literatur iſt ein Triumph des Liberalis¬ mus, denn ſeine Feinde ſogar muͤſſen mit ſeinen Waf¬ fen fechten. Alle Gelehrte, alle Dichter haben ihm Vorſchub geleiſtet, ſeinen groͤßten Philoſophen aber

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/233>, abgerufen am 29.04.2024.