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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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auch, sagte Kronhelm, und eben deswegen ist es
ungerecht und thöricht, auf die Liebe loszuziehen,
wie viel hochgelahrte, sich weise dünkende Leute
thun. Es ist Undank gegen Gott, einen Trieb,
den er mit dem Leben uns ins Herz pflanzt, zu
verdammen, und den Aufruf zu mancher hohen
Tugend für Stimme der Sinnlichkeit, oder gar
des Satans auszugeben. Daß die Liebe oft gemis-
braucht, oder misverstanden wird, soll doch wol
nichts gegen sie beweisen? Denn sonst wäre die
Religion auch ein Uebel, die, wenn sie misverstan-
den und gemisbraucht wird, oft grössere Verwü-
stungen anrichtet, als misverstandne Liebe. An-
statt daß man die Liebe mit Gewalt und stolzer
Verachtung zu unterdrücken, und aus dem Herzen
der Jugend zu verdrängen sucht, sollte man sich
nur bestreben, sie durch Vernunftgründe zu leiten,
und auf den rechten Gegenstand zu lenken. Dieß

naht sich Gott mit größrer Zuversicht; nie bin
ich andächtiger gewesen: als wenn ich Ma-
rianen in der Kirche beten sah, oder gleich
darauf zu Hause betete. Wenn ich erst an sie
denke, dann wird mein Herz weich, und fühlt
sich zur Andacht vorbereitet. Liebe ist gewiß
die Mutter der Menschlichkeit, und grosser
Tugenden.
X x



auch, ſagte Kronhelm, und eben deswegen iſt es
ungerecht und thoͤricht, auf die Liebe loszuziehen,
wie viel hochgelahrte, ſich weiſe duͤnkende Leute
thun. Es iſt Undank gegen Gott, einen Trieb,
den er mit dem Leben uns ins Herz pflanzt, zu
verdammen, und den Aufruf zu mancher hohen
Tugend fuͤr Stimme der Sinnlichkeit, oder gar
des Satans auszugeben. Daß die Liebe oft gemis-
braucht, oder misverſtanden wird, ſoll doch wol
nichts gegen ſie beweiſen? Denn ſonſt waͤre die
Religion auch ein Uebel, die, wenn ſie misverſtan-
den und gemisbraucht wird, oft groͤſſere Verwuͤ-
ſtungen anrichtet, als misverſtandne Liebe. An-
ſtatt daß man die Liebe mit Gewalt und ſtolzer
Verachtung zu unterdruͤcken, und aus dem Herzen
der Jugend zu verdraͤngen ſucht, ſollte man ſich
nur beſtreben, ſie durch Vernunftgruͤnde zu leiten,
und auf den rechten Gegenſtand zu lenken. Dieß

naht ſich Gott mit groͤßrer Zuverſicht; nie bin
ich andaͤchtiger geweſen: als wenn ich Ma-
rianen in der Kirche beten ſah, oder gleich
darauf zu Hauſe betete. Wenn ich erſt an ſie
denke, dann wird mein Herz weich, und fuͤhlt
ſich zur Andacht vorbereitet. Liebe iſt gewiß
die Mutter der Menſchlichkeit, und groſſer
Tugenden.
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[681/0261] auch, ſagte Kronhelm, und eben deswegen iſt es ungerecht und thoͤricht, auf die Liebe loszuziehen, wie viel hochgelahrte, ſich weiſe duͤnkende Leute thun. Es iſt Undank gegen Gott, einen Trieb, den er mit dem Leben uns ins Herz pflanzt, zu verdammen, und den Aufruf zu mancher hohen Tugend fuͤr Stimme der Sinnlichkeit, oder gar des Satans auszugeben. Daß die Liebe oft gemis- braucht, oder misverſtanden wird, ſoll doch wol nichts gegen ſie beweiſen? Denn ſonſt waͤre die Religion auch ein Uebel, die, wenn ſie misverſtan- den und gemisbraucht wird, oft groͤſſere Verwuͤ- ſtungen anrichtet, als misverſtandne Liebe. An- ſtatt daß man die Liebe mit Gewalt und ſtolzer Verachtung zu unterdruͤcken, und aus dem Herzen der Jugend zu verdraͤngen ſucht, ſollte man ſich nur beſtreben, ſie durch Vernunftgruͤnde zu leiten, und auf den rechten Gegenſtand zu lenken. Dieß *) *) naht ſich Gott mit groͤßrer Zuverſicht; nie bin ich andaͤchtiger geweſen: als wenn ich Ma- rianen in der Kirche beten ſah, oder gleich darauf zu Hauſe betete. Wenn ich erſt an ſie denke, dann wird mein Herz weich, und fuͤhlt ſich zur Andacht vorbereitet. Liebe iſt gewiß die Mutter der Menſchlichkeit, und groſſer Tugenden. X x

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 681. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/261>, abgerufen am 27.04.2024.