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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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ihrem unerreichbaren Prototyp. Dieser Umbildung gieng eine rationalistische Kritik zur Seite, die den Wundermann Homer sich übersetzte in einen möglichen Dichter, die die stofflichen und formalen Widersprüche jener zahlreichen Epen gegen die Einheit des Dichters geltend machte und den Schultern Homers allmählich jenes schwere Bündel cyklischer Epen abnahm.

Also Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist ein aesthetisches Urtheil. Damit ist jedoch gegen den Dichter der genannten Epen durchaus noch nicht ausgesagt, dass auch er nur eine Einbildung, in Wahrheit eine aesthetische Unmöglichkeit sei: was die Meinung nur weniger Philologen sein wird. Die Meisten vielmehr behaupten, dass zum Gesammtentwurfe einer Dichtung wie die Ilias ist ein Individuum gehöre, und gerade dies sei Homer. Man wird das erste zugeben müssen, aber das zweite muss ich nach dem Gesagten leugnen. Auch zweifle ich, ob die Meisten zur Anerkennung des ersten Punktes von folgender Erwägung aus gekommen sind.

Der Plan eines solchen Epos wie der der Ilias ist kein Ganzes, kein Organismus, sondern eine Auffädelung, ein Produkt der nach aesthetischen Regeln verfahrenden Reflexion. Es ist gewiss der Masstab der Grösse eines Künstlers, wie viel er zugleich mit einem Gesammtblick überschauen und sich rhythmisch gestalten kann. Der unendliche Reichthum eines homerischen Epos an Bildern und Scenen macht einen solchen Gesammtblick wohl unmöglich. Wo man aber nicht künstlerisch überschauen kann, pflegt man Begriffe an Begriffe zu reihen und sich eine Anordnung nach einem begrifflichen Schema auszudenken.

Dies wird um so vollkommener gelingen, je bewusster der anordnende Künstler die aesthetischen Grundgesetze handhabt: ja er wird selbst die Täuschung erregen können als ob das Ganze in einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm vorgeschwebt habe.

Die Ilias ist kein Kranz, aber ein Blumengewinde. Es sind möglichst viel Bilder in einen Rahmen gesteckt, aber der Zusammensteller

ihrem unerreichbaren Prototyp. Dieser Umbildung gieng eine rationalistische Kritik zur Seite, die den Wundermann Homer sich übersetzte in einen möglichen Dichter, die die stofflichen und formalen Widersprüche jener zahlreichen Epen gegen die Einheit des Dichters geltend machte und den Schultern Homers allmählich jenes schwere Bündel cyklischer Epen abnahm.

Also Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist ein aesthetisches Urtheil. Damit ist jedoch gegen den Dichter der genannten Epen durchaus noch nicht ausgesagt, dass auch er nur eine Einbildung, in Wahrheit eine aesthetische Unmöglichkeit sei: was die Meinung nur weniger Philologen sein wird. Die Meisten vielmehr behaupten, dass zum Gesammtentwurfe einer Dichtung wie die Ilias ist ein Individuum gehöre, und gerade dies sei Homer. Man wird das erste zugeben müssen, aber das zweite muss ich nach dem Gesagten leugnen. Auch zweifle ich, ob die Meisten zur Anerkennung des ersten Punktes von folgender Erwägung aus gekommen sind.

Der Plan eines solchen Epos wie der der Ilias ist kein Ganzes, kein Organismus, sondern eine Auffädelung, ein Produkt der nach aesthetischen Regeln verfahrenden Reflexion. Es ist gewiss der Masstab der Grösse eines Künstlers, wie viel er zugleich mit einem Gesammtblick überschauen und sich rhythmisch gestalten kann. Der unendliche Reichthum eines homerischen Epos an Bildern und Scenen macht einen solchen Gesammtblick wohl unmöglich. Wo man aber nicht künstlerisch überschauen kann, pflegt man Begriffe an Begriffe zu reihen und sich eine Anordnung nach einem begrifflichen Schema auszudenken.

Dies wird um so vollkommener gelingen, je bewusster der anordnende Künstler die aesthetischen Grundgesetze handhabt: ja er wird selbst die Täuschung erregen können als ob das Ganze in einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm vorgeschwebt habe.

Die Ilias ist kein Kranz, aber ein Blumengewinde. Es sind möglichst viel Bilder in einen Rahmen gesteckt, aber der Zusammensteller

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[20/0018] ihrem unerreichbaren Prototyp. Dieser Umbildung gieng eine rationalistische Kritik zur Seite, die den Wundermann Homer sich übersetzte in einen möglichen Dichter, die die stofflichen und formalen Widersprüche jener zahlreichen Epen gegen die Einheit des Dichters geltend machte und den Schultern Homers allmählich jenes schwere Bündel cyklischer Epen abnahm. Also Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist ein aesthetisches Urtheil. Damit ist jedoch gegen den Dichter der genannten Epen durchaus noch nicht ausgesagt, dass auch er nur eine Einbildung, in Wahrheit eine aesthetische Unmöglichkeit sei: was die Meinung nur weniger Philologen sein wird. Die Meisten vielmehr behaupten, dass zum Gesammtentwurfe einer Dichtung wie die Ilias ist ein Individuum gehöre, und gerade dies sei Homer. Man wird das erste zugeben müssen, aber das zweite muss ich nach dem Gesagten leugnen. Auch zweifle ich, ob die Meisten zur Anerkennung des ersten Punktes von folgender Erwägung aus gekommen sind. Der Plan eines solchen Epos wie der der Ilias ist kein Ganzes, kein Organismus, sondern eine Auffädelung, ein Produkt der nach aesthetischen Regeln verfahrenden Reflexion. Es ist gewiss der Masstab der Grösse eines Künstlers, wie viel er zugleich mit einem Gesammtblick überschauen und sich rhythmisch gestalten kann. Der unendliche Reichthum eines homerischen Epos an Bildern und Scenen macht einen solchen Gesammtblick wohl unmöglich. Wo man aber nicht künstlerisch überschauen kann, pflegt man Begriffe an Begriffe zu reihen und sich eine Anordnung nach einem begrifflichen Schema auszudenken. Dies wird um so vollkommener gelingen, je bewusster der anordnende Künstler die aesthetischen Grundgesetze handhabt: ja er wird selbst die Täuschung erregen können als ob das Ganze in einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm vorgeschwebt habe. Die Ilias ist kein Kranz, aber ein Blumengewinde. Es sind möglichst viel Bilder in einen Rahmen gesteckt, aber der Zusammensteller

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/18>, abgerufen am 26.04.2024.