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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
Am Grabe des Königs fallen dort Hunderte von Menschen dem
Wahne, dass ihre Geister als dienstbare Gehilfen dem Abgeschie-
denen nachfolgen oder ihm Botschaften über die jüngsten dies-
seitigen Begebenheiten ins Jenseits überbringen sollen 1). Die Hindu
enthalten sich schon seit Jahrtausenden jeder Fleischnahrung und
dennoch haben sie sich ehemals bei den grossen Dschaggernauth-
festen, von religiöser Raserei ergriffen, zu Dutzenden unter die
Räder des grossen Götzenwagens geworfen, um sich selbst zum
Opfer zu bringen. Wenn also Abraham seinen Sohn auf den
Holzstoss bindet, so folgt daraus noch nicht, dass die Hebräer
vor Abraham, oder wenn Plinius 2) erwähnt, dass im Jahre 657 u. c.
in Rom ein Verbot der Menschenopfer erlassen worden war, dass
die Römer ehemals Canibalen gewesen sein müssten. Wir dürfen
vielmehr beruhigt annehmen, dass nur hin und wieder nicht blos
rohe, sondern selbst hochgestiegene Menschenstämme der ent-
setzlichen Versuchung unterlagen und die Anthropophagie gewiss
nicht zu den unerlässlichen Entwicklungskrankheiten unsres Ge-
schlechtes gehört habe.

Sehr schwierig ist es, den Einfluss der Ernährung auf die
Sittigung der einzelnen Völker nachzuweisen. Mit Zuversicht lässt
sich nur aussprechen, dass ungenügende oder ungeeignete Kost
stets eine physische und geistige Verkümmerung zur Folge gehabt hat.
Auf den reichen Jagdgründen Australiens haben die Reisenden
nicht die dürren Missgestalten wie an der Westküste, sondern
rüstige und wohlgebildete Menschen angetroffen. Nur in den Wild-
nissen der Kalahari sind die Buschmänner klein und zu Gespenstern
abgemagert.

Was dagegen die Wahl der Kost betrifft, können wir nur
einen Satz wiederholen, der längst Gemeingut geworden ist. In
kalten Ländern werden kohlenstoffreiche Nahrungsmittel mit
grösserm Verlangen ergriffen werden, als in warmen. Der Polar-
kreis wäre für einen Hindu ohne Aenderung seiner Speisevor-
schriften unbewohnbar, wie es andrerseits einem Eskimo schwer
fallen dürfte, nach Indien versetzt, Seehundsspeck roh in unaus-
sprechlichen Mengen zu verschlingen. Fügen wir noch die gewiss
treffende Bemerkung Moritz Wagners 3) hinzu, dass in Südasien,

1) Ausland. 1861. S. 407.
2) Hist. nat. XXX, 3--4.
3) Allgem. Zeitung. Beilage. 1871. S. 2887.

Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
Am Grabe des Königs fallen dort Hunderte von Menschen dem
Wahne, dass ihre Geister als dienstbare Gehilfen dem Abgeschie-
denen nachfolgen oder ihm Botschaften über die jüngsten dies-
seitigen Begebenheiten ins Jenseits überbringen sollen 1). Die Hindu
enthalten sich schon seit Jahrtausenden jeder Fleischnahrung und
dennoch haben sie sich ehemals bei den grossen Dschaggernauth-
festen, von religiöser Raserei ergriffen, zu Dutzenden unter die
Räder des grossen Götzenwagens geworfen, um sich selbst zum
Opfer zu bringen. Wenn also Abraham seinen Sohn auf den
Holzstoss bindet, so folgt daraus noch nicht, dass die Hebräer
vor Abraham, oder wenn Plinius 2) erwähnt, dass im Jahre 657 u. c.
in Rom ein Verbot der Menschenopfer erlassen worden war, dass
die Römer ehemals Canibalen gewesen sein müssten. Wir dürfen
vielmehr beruhigt annehmen, dass nur hin und wieder nicht blos
rohe, sondern selbst hochgestiegene Menschenstämme der ent-
setzlichen Versuchung unterlagen und die Anthropophagie gewiss
nicht zu den unerlässlichen Entwicklungskrankheiten unsres Ge-
schlechtes gehört habe.

Sehr schwierig ist es, den Einfluss der Ernährung auf die
Sittigung der einzelnen Völker nachzuweisen. Mit Zuversicht lässt
sich nur aussprechen, dass ungenügende oder ungeeignete Kost
stets eine physische und geistige Verkümmerung zur Folge gehabt hat.
Auf den reichen Jagdgründen Australiens haben die Reisenden
nicht die dürren Missgestalten wie an der Westküste, sondern
rüstige und wohlgebildete Menschen angetroffen. Nur in den Wild-
nissen der Kalahari sind die Buschmänner klein und zu Gespenstern
abgemagert.

Was dagegen die Wahl der Kost betrifft, können wir nur
einen Satz wiederholen, der längst Gemeingut geworden ist. In
kalten Ländern werden kohlenstoffreiche Nahrungsmittel mit
grösserm Verlangen ergriffen werden, als in warmen. Der Polar-
kreis wäre für einen Hindu ohne Aenderung seiner Speisevor-
schriften unbewohnbar, wie es andrerseits einem Eskimo schwer
fallen dürfte, nach Indien versetzt, Seehundsspeck roh in unaus-
sprechlichen Mengen zu verschlingen. Fügen wir noch die gewiss
treffende Bemerkung Moritz Wagners 3) hinzu, dass in Südasien,

1) Ausland. 1861. S. 407.
2) Hist. nat. XXX, 3—4.
3) Allgem. Zeitung. Beilage. 1871. S. 2887.
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[169/0187] Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. Am Grabe des Königs fallen dort Hunderte von Menschen dem Wahne, dass ihre Geister als dienstbare Gehilfen dem Abgeschie- denen nachfolgen oder ihm Botschaften über die jüngsten dies- seitigen Begebenheiten ins Jenseits überbringen sollen 1). Die Hindu enthalten sich schon seit Jahrtausenden jeder Fleischnahrung und dennoch haben sie sich ehemals bei den grossen Dschaggernauth- festen, von religiöser Raserei ergriffen, zu Dutzenden unter die Räder des grossen Götzenwagens geworfen, um sich selbst zum Opfer zu bringen. Wenn also Abraham seinen Sohn auf den Holzstoss bindet, so folgt daraus noch nicht, dass die Hebräer vor Abraham, oder wenn Plinius 2) erwähnt, dass im Jahre 657 u. c. in Rom ein Verbot der Menschenopfer erlassen worden war, dass die Römer ehemals Canibalen gewesen sein müssten. Wir dürfen vielmehr beruhigt annehmen, dass nur hin und wieder nicht blos rohe, sondern selbst hochgestiegene Menschenstämme der ent- setzlichen Versuchung unterlagen und die Anthropophagie gewiss nicht zu den unerlässlichen Entwicklungskrankheiten unsres Ge- schlechtes gehört habe. Sehr schwierig ist es, den Einfluss der Ernährung auf die Sittigung der einzelnen Völker nachzuweisen. Mit Zuversicht lässt sich nur aussprechen, dass ungenügende oder ungeeignete Kost stets eine physische und geistige Verkümmerung zur Folge gehabt hat. Auf den reichen Jagdgründen Australiens haben die Reisenden nicht die dürren Missgestalten wie an der Westküste, sondern rüstige und wohlgebildete Menschen angetroffen. Nur in den Wild- nissen der Kalahari sind die Buschmänner klein und zu Gespenstern abgemagert. Was dagegen die Wahl der Kost betrifft, können wir nur einen Satz wiederholen, der längst Gemeingut geworden ist. In kalten Ländern werden kohlenstoffreiche Nahrungsmittel mit grösserm Verlangen ergriffen werden, als in warmen. Der Polar- kreis wäre für einen Hindu ohne Aenderung seiner Speisevor- schriften unbewohnbar, wie es andrerseits einem Eskimo schwer fallen dürfte, nach Indien versetzt, Seehundsspeck roh in unaus- sprechlichen Mengen zu verschlingen. Fügen wir noch die gewiss treffende Bemerkung Moritz Wagners 3) hinzu, dass in Südasien, 1) Ausland. 1861. S. 407. 2) Hist. nat. XXX, 3—4. 3) Allgem. Zeitung. Beilage. 1871. S. 2887.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/187>, abgerufen am 26.04.2024.