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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
als Westeuropa, die Slaven höhere als die Germanen, diese höhere als die Romanen. Doch
scheinen Rasse, Klima, Arbeits- und Klassenteilung, Vorwiegen von Ackerbau und Ge-
werbe, Stadt und Land, Bevölkerungsdichtigkeit nicht die ersten und wesentlichen Ursachen
der Verschiedenheit zu sein; alle diese Faktoren wirken nur im Zusammenhang mit den
geschlechtlichen Sitten und Gepflogenheiten und den wirtschaftlichen Gesamtzuständen und
Aussichten. Diese beiden Elemente stehen im Vordergrunde. Die Franzosen z. B., deren
Geburtenziffer im 19. Jahrhundert von 32,9 auf 22,6 sank, hatten im 18. Jahrhundert
36--39, sie haben sie noch in Canada und Algerien; es ist die Zahl, welche heute
Preußen und die meisten deutschen Staaten haben. Also nicht die französische Rasse,
sondern die Sitten und die wirtschaftlichen Zustände bewirken die heutige niedrige Zahl.
Es giebt sehr dichtbevölkerte Länder mit hoher Geburtenziffer (über 30), sehr dünn-
bevölkerte mit geringer; das platte Land hat vielfach eine größere Zahl, da und dort
aber auch eine geringere als die Städte.

Die Schwankungen von Jahr zu Jahr sind meist nicht unerheblich, weichen auch
in unserer Zeit von den Mittelzahlen häufig um einige Prozente nach oben und unten
ab; aus dem vorigen Jahrhundert kenne ich noch größere Schwankungen; sie werden
weiter zurück noch erheblicher gewesen sein. Die Ursachen hiefür sind überwiegend wirt-
schaftliche: Abnahme in und nach Hunger-, Kriegs-, Krisenjahren, Steigerung in und
nach guten Erntejahren, Zeiten des Geschäftsaufschwunges, der steigenden Löhne. Von
solchen Gelegenheitsursachen aus kann dann aber auch im Zusammenhang mit dauernden
und großen Veränderungen des wirtschaftlichen Lebens und der geschlechtlichen Sitten
eine Jahrzehnte hindurch anhaltende Veränderung erfolgen. Die preußische Geburtenzahl
stand 1816--27 auf 42--44, sank dann etwas, um 1834--46 auf 40 zu bleiben, ging
1840--60 auf 35 herab, um 1860--80 auf 37--39 zu stehen und nun wieder auf 37
herabzugehen. In Württemberg stieg die Zahl 1846--75 von 40 auf fast 44 und sank
dann auf 34; in England ging sie in denselben Epochen von 32 auf 35 und von 35
auf 30, während sie in Rußland von 1801--75 von 41 auf 51 stieg, nun auf 46
steht. Das ist wesentlich der Ausdruck großer wirtschaftlicher Veränderungen der
betreffenden Staaten, während das Sinken in Frankreich mehr Folge des siegenden
Zweikindersystems und des vorsichtig ausklügelnden Egoismus, aber auch der mehr
stabilen Volkswirtschaft ist.

Die größere Geburtenzahl in Indien, Java, Rußland, auch des östlichen und
mittleren Deutschlands hängt neben den wirtschaftlichen Verhältnissen mit den Gepflogen-
heiten des geschlechtlichen und Familienlebens zusammen, die man so bezeichnen könnte:
man schreitet dort noch naiver zur Ehe, zeugt mehr Kinder, begräbt aber auch viel mehr.
Die Fruchtbarkeit ist groß, weil man die Lücken der Kindersterblichkeit wieder ausfüllen
will und die Sterblichkeit ist groß, weil die große Kinderzahl die Sorgfalt der höheren
Kultur in der Kinderpflege nicht recht gestattet. Gewisse Schriftsteller, wie Malthus,
gehen so weit, zu sagen, meist sei die Geburtenzunahme Folge größerer Sterblichkeit,
also ein ungünstiges Zeichen. Das ist sie keineswegs immer; aber richtig ist, daß sie
der Ausdruck größeren Wohlstandes wie größerer Sterblichkeit oder des Leichtsinns
sein kann. --

Auch über die Zahl der jährlichen Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung
wissen wir aus älteren Zeiten und aus Gebieten ohne Statistik nichts Sicheres. Daß
sie in den Kulturstaaten und in neuerer Zeit im allgemeinen abgenommen habe, ist
sicher; doch giebt Süßmilch für das vorige Jahrhundert im Durchschnitt ganzer Länder
27,7 Todesfälle auf 1000 Lebende an, was von der Zahl für Deutschland 1871--90
mit 26--24 nicht weit absteht. Rawson giebt als gegenwärtiges Mittel an: für Ost-
europa 35,7, für Centraleuropa 28,3, für Südeuropa 25,6, für Nordwesteuropa 20,5.
Die größten heute beobachteten nationalen Gegensätze sind 17 in Norwegen, in Connecticut
und einigen südamerikanischen Staaten, 33--35 für Rußland, dem Chile, Spanien,
Rumänien und Ungarn nahestehen. Eine Sterblichkeit von 18--21 haben heute die
kultivierteren Staaten mit geringerer Geburtenzahl und Kindersterblichkeit, eine solche
von 22--25 ist das mittlere Ergebnis, während die Länder mit starker Geburtenzahl

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
als Weſteuropa, die Slaven höhere als die Germanen, dieſe höhere als die Romanen. Doch
ſcheinen Raſſe, Klima, Arbeits- und Klaſſenteilung, Vorwiegen von Ackerbau und Ge-
werbe, Stadt und Land, Bevölkerungsdichtigkeit nicht die erſten und weſentlichen Urſachen
der Verſchiedenheit zu ſein; alle dieſe Faktoren wirken nur im Zuſammenhang mit den
geſchlechtlichen Sitten und Gepflogenheiten und den wirtſchaftlichen Geſamtzuſtänden und
Ausſichten. Dieſe beiden Elemente ſtehen im Vordergrunde. Die Franzoſen z. B., deren
Geburtenziffer im 19. Jahrhundert von 32,9 auf 22,6 ſank, hatten im 18. Jahrhundert
36—39, ſie haben ſie noch in Canada und Algerien; es iſt die Zahl, welche heute
Preußen und die meiſten deutſchen Staaten haben. Alſo nicht die franzöſiſche Raſſe,
ſondern die Sitten und die wirtſchaftlichen Zuſtände bewirken die heutige niedrige Zahl.
Es giebt ſehr dichtbevölkerte Länder mit hoher Geburtenziffer (über 30), ſehr dünn-
bevölkerte mit geringer; das platte Land hat vielfach eine größere Zahl, da und dort
aber auch eine geringere als die Städte.

Die Schwankungen von Jahr zu Jahr ſind meiſt nicht unerheblich, weichen auch
in unſerer Zeit von den Mittelzahlen häufig um einige Prozente nach oben und unten
ab; aus dem vorigen Jahrhundert kenne ich noch größere Schwankungen; ſie werden
weiter zurück noch erheblicher geweſen ſein. Die Urſachen hiefür ſind überwiegend wirt-
ſchaftliche: Abnahme in und nach Hunger-, Kriegs-, Kriſenjahren, Steigerung in und
nach guten Erntejahren, Zeiten des Geſchäftsaufſchwunges, der ſteigenden Löhne. Von
ſolchen Gelegenheitsurſachen aus kann dann aber auch im Zuſammenhang mit dauernden
und großen Veränderungen des wirtſchaftlichen Lebens und der geſchlechtlichen Sitten
eine Jahrzehnte hindurch anhaltende Veränderung erfolgen. Die preußiſche Geburtenzahl
ſtand 1816—27 auf 42—44, ſank dann etwas, um 1834—46 auf 40 zu bleiben, ging
1840—60 auf 35 herab, um 1860—80 auf 37—39 zu ſtehen und nun wieder auf 37
herabzugehen. In Württemberg ſtieg die Zahl 1846—75 von 40 auf faſt 44 und ſank
dann auf 34; in England ging ſie in denſelben Epochen von 32 auf 35 und von 35
auf 30, während ſie in Rußland von 1801—75 von 41 auf 51 ſtieg, nun auf 46
ſteht. Das iſt weſentlich der Ausdruck großer wirtſchaftlicher Veränderungen der
betreffenden Staaten, während das Sinken in Frankreich mehr Folge des ſiegenden
Zweikinderſyſtems und des vorſichtig ausklügelnden Egoismus, aber auch der mehr
ſtabilen Volkswirtſchaft iſt.

Die größere Geburtenzahl in Indien, Java, Rußland, auch des öſtlichen und
mittleren Deutſchlands hängt neben den wirtſchaftlichen Verhältniſſen mit den Gepflogen-
heiten des geſchlechtlichen und Familienlebens zuſammen, die man ſo bezeichnen könnte:
man ſchreitet dort noch naiver zur Ehe, zeugt mehr Kinder, begräbt aber auch viel mehr.
Die Fruchtbarkeit iſt groß, weil man die Lücken der Kinderſterblichkeit wieder ausfüllen
will und die Sterblichkeit iſt groß, weil die große Kinderzahl die Sorgfalt der höheren
Kultur in der Kinderpflege nicht recht geſtattet. Gewiſſe Schriftſteller, wie Malthus,
gehen ſo weit, zu ſagen, meiſt ſei die Geburtenzunahme Folge größerer Sterblichkeit,
alſo ein ungünſtiges Zeichen. Das iſt ſie keineswegs immer; aber richtig iſt, daß ſie
der Ausdruck größeren Wohlſtandes wie größerer Sterblichkeit oder des Leichtſinns
ſein kann. —

Auch über die Zahl der jährlichen Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung
wiſſen wir aus älteren Zeiten und aus Gebieten ohne Statiſtik nichts Sicheres. Daß
ſie in den Kulturſtaaten und in neuerer Zeit im allgemeinen abgenommen habe, iſt
ſicher; doch giebt Süßmilch für das vorige Jahrhundert im Durchſchnitt ganzer Länder
27,7 Todesfälle auf 1000 Lebende an, was von der Zahl für Deutſchland 1871—90
mit 26—24 nicht weit abſteht. Rawſon giebt als gegenwärtiges Mittel an: für Oſt-
europa 35,7, für Centraleuropa 28,3, für Südeuropa 25,6, für Nordweſteuropa 20,5.
Die größten heute beobachteten nationalen Gegenſätze ſind 17 in Norwegen, in Connecticut
und einigen ſüdamerikaniſchen Staaten, 33—35 für Rußland, dem Chile, Spanien,
Rumänien und Ungarn naheſtehen. Eine Sterblichkeit von 18—21 haben heute die
kultivierteren Staaten mit geringerer Geburtenzahl und Kinderſterblichkeit, eine ſolche
von 22—25 iſt das mittlere Ergebnis, während die Länder mit ſtarker Geburtenzahl

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[166/0182] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. als Weſteuropa, die Slaven höhere als die Germanen, dieſe höhere als die Romanen. Doch ſcheinen Raſſe, Klima, Arbeits- und Klaſſenteilung, Vorwiegen von Ackerbau und Ge- werbe, Stadt und Land, Bevölkerungsdichtigkeit nicht die erſten und weſentlichen Urſachen der Verſchiedenheit zu ſein; alle dieſe Faktoren wirken nur im Zuſammenhang mit den geſchlechtlichen Sitten und Gepflogenheiten und den wirtſchaftlichen Geſamtzuſtänden und Ausſichten. Dieſe beiden Elemente ſtehen im Vordergrunde. Die Franzoſen z. B., deren Geburtenziffer im 19. Jahrhundert von 32,9 auf 22,6 ſank, hatten im 18. Jahrhundert 36—39, ſie haben ſie noch in Canada und Algerien; es iſt die Zahl, welche heute Preußen und die meiſten deutſchen Staaten haben. Alſo nicht die franzöſiſche Raſſe, ſondern die Sitten und die wirtſchaftlichen Zuſtände bewirken die heutige niedrige Zahl. Es giebt ſehr dichtbevölkerte Länder mit hoher Geburtenziffer (über 30), ſehr dünn- bevölkerte mit geringer; das platte Land hat vielfach eine größere Zahl, da und dort aber auch eine geringere als die Städte. Die Schwankungen von Jahr zu Jahr ſind meiſt nicht unerheblich, weichen auch in unſerer Zeit von den Mittelzahlen häufig um einige Prozente nach oben und unten ab; aus dem vorigen Jahrhundert kenne ich noch größere Schwankungen; ſie werden weiter zurück noch erheblicher geweſen ſein. Die Urſachen hiefür ſind überwiegend wirt- ſchaftliche: Abnahme in und nach Hunger-, Kriegs-, Kriſenjahren, Steigerung in und nach guten Erntejahren, Zeiten des Geſchäftsaufſchwunges, der ſteigenden Löhne. Von ſolchen Gelegenheitsurſachen aus kann dann aber auch im Zuſammenhang mit dauernden und großen Veränderungen des wirtſchaftlichen Lebens und der geſchlechtlichen Sitten eine Jahrzehnte hindurch anhaltende Veränderung erfolgen. Die preußiſche Geburtenzahl ſtand 1816—27 auf 42—44, ſank dann etwas, um 1834—46 auf 40 zu bleiben, ging 1840—60 auf 35 herab, um 1860—80 auf 37—39 zu ſtehen und nun wieder auf 37 herabzugehen. In Württemberg ſtieg die Zahl 1846—75 von 40 auf faſt 44 und ſank dann auf 34; in England ging ſie in denſelben Epochen von 32 auf 35 und von 35 auf 30, während ſie in Rußland von 1801—75 von 41 auf 51 ſtieg, nun auf 46 ſteht. Das iſt weſentlich der Ausdruck großer wirtſchaftlicher Veränderungen der betreffenden Staaten, während das Sinken in Frankreich mehr Folge des ſiegenden Zweikinderſyſtems und des vorſichtig ausklügelnden Egoismus, aber auch der mehr ſtabilen Volkswirtſchaft iſt. Die größere Geburtenzahl in Indien, Java, Rußland, auch des öſtlichen und mittleren Deutſchlands hängt neben den wirtſchaftlichen Verhältniſſen mit den Gepflogen- heiten des geſchlechtlichen und Familienlebens zuſammen, die man ſo bezeichnen könnte: man ſchreitet dort noch naiver zur Ehe, zeugt mehr Kinder, begräbt aber auch viel mehr. Die Fruchtbarkeit iſt groß, weil man die Lücken der Kinderſterblichkeit wieder ausfüllen will und die Sterblichkeit iſt groß, weil die große Kinderzahl die Sorgfalt der höheren Kultur in der Kinderpflege nicht recht geſtattet. Gewiſſe Schriftſteller, wie Malthus, gehen ſo weit, zu ſagen, meiſt ſei die Geburtenzunahme Folge größerer Sterblichkeit, alſo ein ungünſtiges Zeichen. Das iſt ſie keineswegs immer; aber richtig iſt, daß ſie der Ausdruck größeren Wohlſtandes wie größerer Sterblichkeit oder des Leichtſinns ſein kann. — Auch über die Zahl der jährlichen Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung wiſſen wir aus älteren Zeiten und aus Gebieten ohne Statiſtik nichts Sicheres. Daß ſie in den Kulturſtaaten und in neuerer Zeit im allgemeinen abgenommen habe, iſt ſicher; doch giebt Süßmilch für das vorige Jahrhundert im Durchſchnitt ganzer Länder 27,7 Todesfälle auf 1000 Lebende an, was von der Zahl für Deutſchland 1871—90 mit 26—24 nicht weit abſteht. Rawſon giebt als gegenwärtiges Mittel an: für Oſt- europa 35,7, für Centraleuropa 28,3, für Südeuropa 25,6, für Nordweſteuropa 20,5. Die größten heute beobachteten nationalen Gegenſätze ſind 17 in Norwegen, in Connecticut und einigen ſüdamerikaniſchen Staaten, 33—35 für Rußland, dem Chile, Spanien, Rumänien und Ungarn naheſtehen. Eine Sterblichkeit von 18—21 haben heute die kultivierteren Staaten mit geringerer Geburtenzahl und Kinderſterblichkeit, eine ſolche von 22—25 iſt das mittlere Ergebnis, während die Länder mit ſtarker Geburtenzahl

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/182>, abgerufen am 26.04.2024.