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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
damals. Ohne Bedenken und große Schattenseiten, auf die wir zurückkommen, ist sie
auch heute nicht. Die Umbildung und die Wanderungen erzeugen Kämpfe und Schwierig-
keiten aller Art. Bücher sagt mit Recht: der Zug nach der Stadt versetze zahlreiche
Menschen fast plötzlich aus einer natural- in eine geld- und kreditwirtschaftliche Lebens-
sphäre, und die socialen Gewohnheiten seien dadurch in einer Weise bedroht, welche den
Menschenfreund mit schweren Sorgen erfülle. Aber er fügt bei, man überschätze heute
doch oft die Mobilisierung der Gesellschaft sehr; der heutige Arbeiter wandere weniger als
früher der Geselle; die Mehrzahl der Wanderungen suche ihr Ziel in der Nähe, oft
nur im nächsten Dorfe. Und im ganzen entspreche die Wanderung eben der durch den
neuen Verkehr nötig gewordenen Verlegung aller Standorte der Industrie und der
Landwirtschaft, der Umbildung aus den Zuständen der Stadt- und Territorial- in die
der National- und Weltwirtschaft.

Das ist alles richtig im ganzen; aber ob im einzelnen die Wogen nicht zu weit
gehen, nach falschen Zielen hinfluten, ob nicht neben berechtigten wirtschaftlichen Motiven
andere nicht wirtschaftliche, sittlich zweifelhafte mitspielen, ungünstige Nebenfolgen ein-
treten, das sind offene Fragen, die freilich nicht generell zu beantworten sind.

99. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse unserer vorstehenden histo-
rischen Ausführungen wird etwa dahin lauten:

a) Die Menschen haben nicht bloß das notwendige Bedürfnis, in Familiengruppen
von 4--10, sondern auch in größeren Gruppen von 20, 50, 100, 1000 und mehr Menschen
so zusammen zu leben, daß die Nachbarn zum Verschiedensten zusammenwirken, sich täglich
sehen können. Für gewisse Zwecke reicht es freilich, wenn die aufeinander Angewiesenen sich
jährlich ein- oder ein paar Mal oder auch monatlich oder wöchentlich sehen oder versammeln
können: so z. B. für Gerichts- und Verwaltungs-, Markt- und einzelne Kulturzwecke. Aber
das sind die beschränkteren Aufgaben, und sie leiden, je größer die Wege werden. Im
übrigen liegt die Notwendigkeit des nachbarlichen Wohnens in den gesamten Zwecken, welche
die Menschen aus irgend welchen Ursachen besser gemeinsam, in nachbarlichem Austausch
und Kontakt verfolgen. Es kommt das Verschiedenartigste da in Betracht; scheiden wir
mal die nicht wirtschaftlichen und die wirtschaftlichen Zwecke; von den nicht wirtschaft-
lichen stehen voran: das Bedürfnis der Geselligkeit, der Unterhaltung, des gegenseitigen
Schutzes gegen Feinde, bei höherer Kultur das der Schule, des Kirchbesuches. Von den
wirtschaftlichen Zwecken können die primitivsten auch von einzelnen isoliert wohnenden
Familien bis auf einen gewissen Grad verfolgt werden: z. B. die Fischerei, die Jagd,
der Hack- und Ackerbau. Aber wir sahen schon, daß die Viehzucht, die Feldgemeinschaft,
der Hausbau und Schiffsbau selbst auf niedriger Stufe doch besser von Genossenschaften
in die Hand genommen wird. Vollends jede Arbeitsteilung, die gewerbliche Thätigkeit,
der Handel ist bei dem zerstreuten Wohnen zwar nicht unmöglich -- man denke an den
Hausierer, den gewerblichen Wanderarbeiter auf der Stör --, aber sehr erschwert. Jede
höhere Entwickelung der Staatsverwaltung, der Kirche, gewisser aristokratischer Kreise mit
großen Scharen von Dienern, der Geld- und Kreditwirtschaft, des geistigen Lebens setzt
gedrängteres Wohnen wenigstens für einen Teil der Bevölkerung voraus. Aber ein
solches hat seine engen Grenzen; wo 500, 1000 und mehr Ackerbaufamilien als Nach-
barn zusammen wohnen wollen, werden die Wege zum Ackerfelde zu lang und zu zeit-
raubend. Thünen hat berechnet, daß ein großer Teil unserer von Dorf oder Hof zu
entfernt liegenden Äcker deshalb keinen Reinertrag geben. Das enge Wohnen macht die
Orte ungesund; mehr als einige Stockwerke können nicht übereinander getürmt werden;
wo statt ein und zwei Familien zwanzig bis fünfzig in einem Hause wohnen, wird
das Familienleben und die Sittlichkeit bedroht oder ist nur durch komplizierte Ord-
nungen in Reinheit zu erhalten; wo zu viel Menschen einander Luft, Licht, Raum
nehmen, da steigern sich alle Reibungen und Konflikte, wird auch alles wirtschaftliche
Leben schwieriger, in vieler Hinsicht teurer.

So entstehen für alle socialen Gruppen und Individuen, für jede Zeit, auf jedem
Boden eine Summe von teils sich gegenseitig steigernden, teils sich begrenzenden und
widersprechenden Motiven, welche hier auf konzentrierteres, dort wieder auf zerstreuteres

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
damals. Ohne Bedenken und große Schattenſeiten, auf die wir zurückkommen, iſt ſie
auch heute nicht. Die Umbildung und die Wanderungen erzeugen Kämpfe und Schwierig-
keiten aller Art. Bücher ſagt mit Recht: der Zug nach der Stadt verſetze zahlreiche
Menſchen faſt plötzlich aus einer natural- in eine geld- und kreditwirtſchaftliche Lebens-
ſphäre, und die ſocialen Gewohnheiten ſeien dadurch in einer Weiſe bedroht, welche den
Menſchenfreund mit ſchweren Sorgen erfülle. Aber er fügt bei, man überſchätze heute
doch oft die Mobiliſierung der Geſellſchaft ſehr; der heutige Arbeiter wandere weniger als
früher der Geſelle; die Mehrzahl der Wanderungen ſuche ihr Ziel in der Nähe, oft
nur im nächſten Dorfe. Und im ganzen entſpreche die Wanderung eben der durch den
neuen Verkehr nötig gewordenen Verlegung aller Standorte der Induſtrie und der
Landwirtſchaft, der Umbildung aus den Zuſtänden der Stadt- und Territorial- in die
der National- und Weltwirtſchaft.

Das iſt alles richtig im ganzen; aber ob im einzelnen die Wogen nicht zu weit
gehen, nach falſchen Zielen hinfluten, ob nicht neben berechtigten wirtſchaftlichen Motiven
andere nicht wirtſchaftliche, ſittlich zweifelhafte mitſpielen, ungünſtige Nebenfolgen ein-
treten, das ſind offene Fragen, die freilich nicht generell zu beantworten ſind.

99. Eine Zuſammenfaſſung der Ergebniſſe unſerer vorſtehenden hiſto-
riſchen Ausführungen wird etwa dahin lauten:

a) Die Menſchen haben nicht bloß das notwendige Bedürfnis, in Familiengruppen
von 4—10, ſondern auch in größeren Gruppen von 20, 50, 100, 1000 und mehr Menſchen
ſo zuſammen zu leben, daß die Nachbarn zum Verſchiedenſten zuſammenwirken, ſich täglich
ſehen können. Für gewiſſe Zwecke reicht es freilich, wenn die aufeinander Angewieſenen ſich
jährlich ein- oder ein paar Mal oder auch monatlich oder wöchentlich ſehen oder verſammeln
können: ſo z. B. für Gerichts- und Verwaltungs-, Markt- und einzelne Kulturzwecke. Aber
das ſind die beſchränkteren Aufgaben, und ſie leiden, je größer die Wege werden. Im
übrigen liegt die Notwendigkeit des nachbarlichen Wohnens in den geſamten Zwecken, welche
die Menſchen aus irgend welchen Urſachen beſſer gemeinſam, in nachbarlichem Austauſch
und Kontakt verfolgen. Es kommt das Verſchiedenartigſte da in Betracht; ſcheiden wir
mal die nicht wirtſchaftlichen und die wirtſchaftlichen Zwecke; von den nicht wirtſchaft-
lichen ſtehen voran: das Bedürfnis der Geſelligkeit, der Unterhaltung, des gegenſeitigen
Schutzes gegen Feinde, bei höherer Kultur das der Schule, des Kirchbeſuches. Von den
wirtſchaftlichen Zwecken können die primitivſten auch von einzelnen iſoliert wohnenden
Familien bis auf einen gewiſſen Grad verfolgt werden: z. B. die Fiſcherei, die Jagd,
der Hack- und Ackerbau. Aber wir ſahen ſchon, daß die Viehzucht, die Feldgemeinſchaft,
der Hausbau und Schiffsbau ſelbſt auf niedriger Stufe doch beſſer von Genoſſenſchaften
in die Hand genommen wird. Vollends jede Arbeitsteilung, die gewerbliche Thätigkeit,
der Handel iſt bei dem zerſtreuten Wohnen zwar nicht unmöglich — man denke an den
Hauſierer, den gewerblichen Wanderarbeiter auf der Stör —, aber ſehr erſchwert. Jede
höhere Entwickelung der Staatsverwaltung, der Kirche, gewiſſer ariſtokratiſcher Kreiſe mit
großen Scharen von Dienern, der Geld- und Kreditwirtſchaft, des geiſtigen Lebens ſetzt
gedrängteres Wohnen wenigſtens für einen Teil der Bevölkerung voraus. Aber ein
ſolches hat ſeine engen Grenzen; wo 500, 1000 und mehr Ackerbaufamilien als Nach-
barn zuſammen wohnen wollen, werden die Wege zum Ackerfelde zu lang und zu zeit-
raubend. Thünen hat berechnet, daß ein großer Teil unſerer von Dorf oder Hof zu
entfernt liegenden Äcker deshalb keinen Reinertrag geben. Das enge Wohnen macht die
Orte ungeſund; mehr als einige Stockwerke können nicht übereinander getürmt werden;
wo ſtatt ein und zwei Familien zwanzig bis fünfzig in einem Hauſe wohnen, wird
das Familienleben und die Sittlichkeit bedroht oder iſt nur durch komplizierte Ord-
nungen in Reinheit zu erhalten; wo zu viel Menſchen einander Luft, Licht, Raum
nehmen, da ſteigern ſich alle Reibungen und Konflikte, wird auch alles wirtſchaftliche
Leben ſchwieriger, in vieler Hinſicht teurer.

So entſtehen für alle ſocialen Gruppen und Individuen, für jede Zeit, auf jedem
Boden eine Summe von teils ſich gegenſeitig ſteigernden, teils ſich begrenzenden und
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[272/0288] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. damals. Ohne Bedenken und große Schattenſeiten, auf die wir zurückkommen, iſt ſie auch heute nicht. Die Umbildung und die Wanderungen erzeugen Kämpfe und Schwierig- keiten aller Art. Bücher ſagt mit Recht: der Zug nach der Stadt verſetze zahlreiche Menſchen faſt plötzlich aus einer natural- in eine geld- und kreditwirtſchaftliche Lebens- ſphäre, und die ſocialen Gewohnheiten ſeien dadurch in einer Weiſe bedroht, welche den Menſchenfreund mit ſchweren Sorgen erfülle. Aber er fügt bei, man überſchätze heute doch oft die Mobiliſierung der Geſellſchaft ſehr; der heutige Arbeiter wandere weniger als früher der Geſelle; die Mehrzahl der Wanderungen ſuche ihr Ziel in der Nähe, oft nur im nächſten Dorfe. Und im ganzen entſpreche die Wanderung eben der durch den neuen Verkehr nötig gewordenen Verlegung aller Standorte der Induſtrie und der Landwirtſchaft, der Umbildung aus den Zuſtänden der Stadt- und Territorial- in die der National- und Weltwirtſchaft. Das iſt alles richtig im ganzen; aber ob im einzelnen die Wogen nicht zu weit gehen, nach falſchen Zielen hinfluten, ob nicht neben berechtigten wirtſchaftlichen Motiven andere nicht wirtſchaftliche, ſittlich zweifelhafte mitſpielen, ungünſtige Nebenfolgen ein- treten, das ſind offene Fragen, die freilich nicht generell zu beantworten ſind. 99. Eine Zuſammenfaſſung der Ergebniſſe unſerer vorſtehenden hiſto- riſchen Ausführungen wird etwa dahin lauten: a) Die Menſchen haben nicht bloß das notwendige Bedürfnis, in Familiengruppen von 4—10, ſondern auch in größeren Gruppen von 20, 50, 100, 1000 und mehr Menſchen ſo zuſammen zu leben, daß die Nachbarn zum Verſchiedenſten zuſammenwirken, ſich täglich ſehen können. Für gewiſſe Zwecke reicht es freilich, wenn die aufeinander Angewieſenen ſich jährlich ein- oder ein paar Mal oder auch monatlich oder wöchentlich ſehen oder verſammeln können: ſo z. B. für Gerichts- und Verwaltungs-, Markt- und einzelne Kulturzwecke. Aber das ſind die beſchränkteren Aufgaben, und ſie leiden, je größer die Wege werden. Im übrigen liegt die Notwendigkeit des nachbarlichen Wohnens in den geſamten Zwecken, welche die Menſchen aus irgend welchen Urſachen beſſer gemeinſam, in nachbarlichem Austauſch und Kontakt verfolgen. Es kommt das Verſchiedenartigſte da in Betracht; ſcheiden wir mal die nicht wirtſchaftlichen und die wirtſchaftlichen Zwecke; von den nicht wirtſchaft- lichen ſtehen voran: das Bedürfnis der Geſelligkeit, der Unterhaltung, des gegenſeitigen Schutzes gegen Feinde, bei höherer Kultur das der Schule, des Kirchbeſuches. Von den wirtſchaftlichen Zwecken können die primitivſten auch von einzelnen iſoliert wohnenden Familien bis auf einen gewiſſen Grad verfolgt werden: z. B. die Fiſcherei, die Jagd, der Hack- und Ackerbau. Aber wir ſahen ſchon, daß die Viehzucht, die Feldgemeinſchaft, der Hausbau und Schiffsbau ſelbſt auf niedriger Stufe doch beſſer von Genoſſenſchaften in die Hand genommen wird. Vollends jede Arbeitsteilung, die gewerbliche Thätigkeit, der Handel iſt bei dem zerſtreuten Wohnen zwar nicht unmöglich — man denke an den Hauſierer, den gewerblichen Wanderarbeiter auf der Stör —, aber ſehr erſchwert. Jede höhere Entwickelung der Staatsverwaltung, der Kirche, gewiſſer ariſtokratiſcher Kreiſe mit großen Scharen von Dienern, der Geld- und Kreditwirtſchaft, des geiſtigen Lebens ſetzt gedrängteres Wohnen wenigſtens für einen Teil der Bevölkerung voraus. Aber ein ſolches hat ſeine engen Grenzen; wo 500, 1000 und mehr Ackerbaufamilien als Nach- barn zuſammen wohnen wollen, werden die Wege zum Ackerfelde zu lang und zu zeit- raubend. Thünen hat berechnet, daß ein großer Teil unſerer von Dorf oder Hof zu entfernt liegenden Äcker deshalb keinen Reinertrag geben. Das enge Wohnen macht die Orte ungeſund; mehr als einige Stockwerke können nicht übereinander getürmt werden; wo ſtatt ein und zwei Familien zwanzig bis fünfzig in einem Hauſe wohnen, wird das Familienleben und die Sittlichkeit bedroht oder iſt nur durch komplizierte Ord- nungen in Reinheit zu erhalten; wo zu viel Menſchen einander Luft, Licht, Raum nehmen, da ſteigern ſich alle Reibungen und Konflikte, wird auch alles wirtſchaftliche Leben ſchwieriger, in vieler Hinſicht teurer. So entſtehen für alle ſocialen Gruppen und Individuen, für jede Zeit, auf jedem Boden eine Summe von teils ſich gegenſeitig ſteigernden, teils ſich begrenzenden und widerſprechenden Motiven, welche hier auf konzentrierteres, dort wieder auf zerſtreuteres

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/288>, abgerufen am 27.04.2024.