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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
licher Ritualvorschriften, man straft den, welcher auf den polynesischen Inseln die dem
Fürsten vorbehaltenen Speisen berührt, aufs unerbittlichste. Und derartiges war und ist
notwendig, so lange Recht, Moral und Sitte nicht geschieden sind. Erst unsere fest-
gefügte staatliche Justiz einerseits, die große geistige Kraft unserer Sitte wie unserer
ausgebildeten Religions- und Moralsysteme andererseits haben es gestattet, den Rechts-
und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung so weit zu entfernen, daß wir
uns darauf beschränken, nur einzelne ganz besondere Ausschreitungen auf diesen Gebieten
durch Preß- und Strafrecht zu verbieten. Nur diese Entwickelung ermöglicht es uns,
eine Freiheit der Wissenschaft, der Presse, des häuslichen Lebens, der Geselligkeit, des
Konsums, der Wirtschaft zu gestatten, die früher undenkbar war.

Damit ist eine Reihe schiefer Vorstellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit
in den Staatswissenschaften, zumal in der Nationalökonomie, ihr Wesen trieben.

Die schiefe Theorie von einer natürlichen Gesellschaft und einer natürlichen Volks-
wirtschaft, wie sie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstand, beruhte
auf einer Verkennung oder Ignorierung der Thatsache, daß alle unsere Handlungen von
Moral, Sitte und Recht beeinflußt sind. Man leitete das gesellschaftliche und wirtschaft-
liche Leben aus sog. freien, natürlichen Trieben ab; man nahm an, diesen sei nur auf
einigen bestimmten und beschränkten Punkten durch das Recht ein Zügel angelegt. Im
übrigen erschien das möglichst freie Spiel dieser Triebe als das gesellschaftliche Ideal;
sie sollten sich in möglichst freiem Kampfe bethätigen. Daß sie doch ein glückliches Gesamt-
ergebnis
herbeiführen, leitete man aus einer prästabilierten Harmonie ab. Die unbedingte,
uneingeschränkte politische, wirtschaftliche und sonstige individuelle Freiheit erschien als
der Ausdruck dieser Lehre. Je unbeschränkter der Erwerbstrieb walte, desto gesünder
sei die Volkswirtschaft. Die Satire aller Moral, eine brutale Ellbogenmoral der
Starken, blieb bei dieser Auffassung vom Sittlichen übrig.

Wir können in einer solchen Auffassung nur eine Summe von Irrtümern und
Übertreibungen sehen, die freilich wohl historisch erklärbar sind. Man hatte 1750--1850,
in einer Zeit der größten technischen, wirtschaftlichen und socialen Umbildungen, vor
allem das Bedürfnis, veraltete sittliche Lebensordnungen zu beseitigen, veraltete Sitten
und Rechtsinstitutionen über Bord zu werfen. Man sah in diesem Kampfe eine Rückkehr
zum Natürlichen und Gerechten und mußte dabei dem freien Triebleben zeitweise sehr
großen Spielraum gönnen. Aber der ganze Umschwung vollzog sich doch unter Leitung
sittlicher Ideen, neuer Moralsysteme, und das letzte Resultat waren überall neue Sitten
und neue Rechtsinstitutionen. Die Frage der wirtschaftlichen und politischen Freiheit
war hier und ist stets nur die Frage der richtigen Grenzregulierung zwischen Sitte,
Recht und Moral. Wenn ich im Krämerladen zusehe, wie ein armes, altes Mütterchen
durch schlechten, gefärbten Kaffee betrogen wird, während vielleicht die vornehme Dame
gute Ware zu solidem Preise erhält, dann frage ich, ist unsere heutige Moral so
gesunken? ist die Sitte der anständigen Geschäftsleute durch eine Übermacht der Konkurrenz
ins Wanken geraten? Ich frage weiter, ist nicht eine Strafklausel in einem Lebens-
mittelfälschungsgesetz vorhanden oder zu schaffen, die solches hindert? ist es wahr-
scheinlich, daß sie Besserung schafft, daß sie gerecht und allgemein durchgeführt wird?
Der Vernünftige, der heute für freie Konkurrenz, für Beseitigung dieser oder jener
Rechtsschranken eintritt, der daraus eine Belebung des Selbstbewußtseins, eine Stärkung
der Selbstverantwortlichkeit, sowie aller individuellen Kräfte ableitet, rechtfertigt dies
in der Regel nicht damit, daß die Willkür, der Egoismus, das schrankenlose Triebleben
herrschen soll, sondern damit, daß er nachweist, die Moral und die gute Sitte werde
von selbst vordringen, die Rechtsregel sei zu schablonenhaft, schade da und dort, die
freie Umbildung reiche aus, sei vorzuziehen, weil die inneren sittlichen Kräfte genügten.

Der historische Entwickelungsprozeß in Bezug auf diese Fragen wird sich weder
in dem Schlagwort des älteren Liberalismus zusammenfassen lassen, die Freiheit erringe
sich notwendig ein stets zunehmendes Gebiet, noch in die Formel von Lassalle und
Rodbertus, alle höhere Kultur sei fortschreitende Rechtsregulierung und Einschränkung
der persönlichen Freiheit.

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
licher Ritualvorſchriften, man ſtraft den, welcher auf den polyneſiſchen Inſeln die dem
Fürſten vorbehaltenen Speiſen berührt, aufs unerbittlichſte. Und derartiges war und iſt
notwendig, ſo lange Recht, Moral und Sitte nicht geſchieden ſind. Erſt unſere feſt-
gefügte ſtaatliche Juſtiz einerſeits, die große geiſtige Kraft unſerer Sitte wie unſerer
ausgebildeten Religions- und Moralſyſteme andererſeits haben es geſtattet, den Rechts-
und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung ſo weit zu entfernen, daß wir
uns darauf beſchränken, nur einzelne ganz beſondere Ausſchreitungen auf dieſen Gebieten
durch Preß- und Strafrecht zu verbieten. Nur dieſe Entwickelung ermöglicht es uns,
eine Freiheit der Wiſſenſchaft, der Preſſe, des häuslichen Lebens, der Geſelligkeit, des
Konſums, der Wirtſchaft zu geſtatten, die früher undenkbar war.

Damit iſt eine Reihe ſchiefer Vorſtellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit
in den Staatswiſſenſchaften, zumal in der Nationalökonomie, ihr Weſen trieben.

Die ſchiefe Theorie von einer natürlichen Geſellſchaft und einer natürlichen Volks-
wirtſchaft, wie ſie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entſtand, beruhte
auf einer Verkennung oder Ignorierung der Thatſache, daß alle unſere Handlungen von
Moral, Sitte und Recht beeinflußt ſind. Man leitete das geſellſchaftliche und wirtſchaft-
liche Leben aus ſog. freien, natürlichen Trieben ab; man nahm an, dieſen ſei nur auf
einigen beſtimmten und beſchränkten Punkten durch das Recht ein Zügel angelegt. Im
übrigen erſchien das möglichſt freie Spiel dieſer Triebe als das geſellſchaftliche Ideal;
ſie ſollten ſich in möglichſt freiem Kampfe bethätigen. Daß ſie doch ein glückliches Geſamt-
ergebnis
herbeiführen, leitete man aus einer präſtabilierten Harmonie ab. Die unbedingte,
uneingeſchränkte politiſche, wirtſchaftliche und ſonſtige individuelle Freiheit erſchien als
der Ausdruck dieſer Lehre. Je unbeſchränkter der Erwerbstrieb walte, deſto geſünder
ſei die Volkswirtſchaft. Die Satire aller Moral, eine brutale Ellbogenmoral der
Starken, blieb bei dieſer Auffaſſung vom Sittlichen übrig.

Wir können in einer ſolchen Auffaſſung nur eine Summe von Irrtümern und
Übertreibungen ſehen, die freilich wohl hiſtoriſch erklärbar ſind. Man hatte 1750—1850,
in einer Zeit der größten techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Umbildungen, vor
allem das Bedürfnis, veraltete ſittliche Lebensordnungen zu beſeitigen, veraltete Sitten
und Rechtsinſtitutionen über Bord zu werfen. Man ſah in dieſem Kampfe eine Rückkehr
zum Natürlichen und Gerechten und mußte dabei dem freien Triebleben zeitweiſe ſehr
großen Spielraum gönnen. Aber der ganze Umſchwung vollzog ſich doch unter Leitung
ſittlicher Ideen, neuer Moralſyſteme, und das letzte Reſultat waren überall neue Sitten
und neue Rechtsinſtitutionen. Die Frage der wirtſchaftlichen und politiſchen Freiheit
war hier und iſt ſtets nur die Frage der richtigen Grenzregulierung zwiſchen Sitte,
Recht und Moral. Wenn ich im Krämerladen zuſehe, wie ein armes, altes Mütterchen
durch ſchlechten, gefärbten Kaffee betrogen wird, während vielleicht die vornehme Dame
gute Ware zu ſolidem Preiſe erhält, dann frage ich, iſt unſere heutige Moral ſo
geſunken? iſt die Sitte der anſtändigen Geſchäftsleute durch eine Übermacht der Konkurrenz
ins Wanken geraten? Ich frage weiter, iſt nicht eine Strafklauſel in einem Lebens-
mittelfälſchungsgeſetz vorhanden oder zu ſchaffen, die ſolches hindert? iſt es wahr-
ſcheinlich, daß ſie Beſſerung ſchafft, daß ſie gerecht und allgemein durchgeführt wird?
Der Vernünftige, der heute für freie Konkurrenz, für Beſeitigung dieſer oder jener
Rechtsſchranken eintritt, der daraus eine Belebung des Selbſtbewußtſeins, eine Stärkung
der Selbſtverantwortlichkeit, ſowie aller individuellen Kräfte ableitet, rechtfertigt dies
in der Regel nicht damit, daß die Willkür, der Egoismus, das ſchrankenloſe Triebleben
herrſchen ſoll, ſondern damit, daß er nachweiſt, die Moral und die gute Sitte werde
von ſelbſt vordringen, die Rechtsregel ſei zu ſchablonenhaft, ſchade da und dort, die
freie Umbildung reiche aus, ſei vorzuziehen, weil die inneren ſittlichen Kräfte genügten.

Der hiſtoriſche Entwickelungsprozeß in Bezug auf dieſe Fragen wird ſich weder
in dem Schlagwort des älteren Liberalismus zuſammenfaſſen laſſen, die Freiheit erringe
ſich notwendig ein ſtets zunehmendes Gebiet, noch in die Formel von Laſſalle und
Rodbertus, alle höhere Kultur ſei fortſchreitende Rechtsregulierung und Einſchränkung
der perſönlichen Freiheit.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/74>, abgerufen am 27.04.2024.