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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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liges feiles Mädchen: das war für die Mutter des from¬
men Mannes der Aeneide kein sonderlicher Weih¬
rauch. Ohne mein Erinnern siehst Du hieraus, das[s]
die sicilischen Mauleseltreiber sehr starke Antiquare
sind, ob sie die Sache gleich nicht immer ausseror
dentlich genau nehmen: denn der Agrigentiner rech¬
nete den benachbarten Makaluba zu den Alterthümern
seiner Vaterstadt, ohne dass seine Gegner protestier¬
ten; und hätte der Streit länger gedauert, so hätte der
Katanier vielleicht den Aetna auch mit aufgezählt.

Den Morgen darauf gingen wir durch die Jumar¬
ren, einen heilosen Weg, unter sehr schlechtem Wet¬
ter. Nie habe ich eine solche Armuth gesehen, und
nie habe ich mir sie nur so entsetzlich denken kön¬
nen. Die Insel sieht im Innern furchtbar aus. Hier
und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist
eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich
gesehen habe. Zu Mittage war im Wirthshause durch¬
aus kein Stückchen Brot zu haben. Die Bettler ka¬
men in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen
welche die römischen auf der Treppe des spanischen
Platzes noch Wohlhabenheit sind: sie bettelten nicht,
sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends
nur mit Blicken flehend in stummer Erwartung an
der Thüre. Erst küsste man das Brot, das ich gab,
und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um
mich her über den reichen Boden, und hätte in die¬
sem Augenblicke alle sicilische Barone und Aebte mit
den Ministern an ihrer Spitze vor die Kartätsche stel¬
len können. Es ist heillos. Den Abend blieb ich in
Fontana Fredda, wo ich, nach dem Namen zu urthei¬

liges feiles Mädchen: das war für die Mutter des from¬
men Mannes der Aeneide kein sonderlicher Weih¬
rauch. Ohne mein Erinnern siehst Du hieraus, daſ[s]
die sicilischen Mauleseltreiber sehr starke Antiquare
sind, ob sie die Sache gleich nicht immer auſseror
dentlich genau nehmen: denn der Agrigentiner rech¬
nete den benachbarten Makaluba zu den Alterthümern
seiner Vaterstadt, ohne daſs seine Gegner protestier¬
ten; und hätte der Streit länger gedauert, so hätte der
Katanier vielleicht den Aetna auch mit aufgezählt.

Den Morgen darauf gingen wir durch die Jumar¬
ren, einen heilosen Weg, unter sehr schlechtem Wet¬
ter. Nie habe ich eine solche Armuth gesehen, und
nie habe ich mir sie nur so entsetzlich denken kön¬
nen. Die Insel sieht im Innern furchtbar aus. Hier
und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist
eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich
gesehen habe. Zu Mittage war im Wirthshause durch¬
aus kein Stückchen Brot zu haben. Die Bettler ka¬
men in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen
welche die römischen auf der Treppe des spanischen
Platzes noch Wohlhabenheit sind: sie bettelten nicht,
sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends
nur mit Blicken flehend in stummer Erwartung an
der Thüre. Erst küſste man das Brot, das ich gab,
und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um
mich her über den reichen Boden, und hätte in die¬
sem Augenblicke alle sicilische Barone und Aebte mit
den Ministern an ihrer Spitze vor die Kartätsche stel¬
len können. Es ist heillos. Den Abend blieb ich in
Fontana Fredda, wo ich, nach dem Namen zu urthei¬

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[211/0237] liges feiles Mädchen: das war für die Mutter des from¬ men Mannes der Aeneide kein sonderlicher Weih¬ rauch. Ohne mein Erinnern siehst Du hieraus, daſs die sicilischen Mauleseltreiber sehr starke Antiquare sind, ob sie die Sache gleich nicht immer auſseror dentlich genau nehmen: denn der Agrigentiner rech¬ nete den benachbarten Makaluba zu den Alterthümern seiner Vaterstadt, ohne daſs seine Gegner protestier¬ ten; und hätte der Streit länger gedauert, so hätte der Katanier vielleicht den Aetna auch mit aufgezählt. Den Morgen darauf gingen wir durch die Jumar¬ ren, einen heilosen Weg, unter sehr schlechtem Wet¬ ter. Nie habe ich eine solche Armuth gesehen, und nie habe ich mir sie nur so entsetzlich denken kön¬ nen. Die Insel sieht im Innern furchtbar aus. Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe. Zu Mittage war im Wirthshause durch¬ aus kein Stückchen Brot zu haben. Die Bettler ka¬ men in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen welche die römischen auf der Treppe des spanischen Platzes noch Wohlhabenheit sind: sie bettelten nicht, sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends nur mit Blicken flehend in stummer Erwartung an der Thüre. Erst küſste man das Brot, das ich gab, und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um mich her über den reichen Boden, und hätte in die¬ sem Augenblicke alle sicilische Barone und Aebte mit den Ministern an ihrer Spitze vor die Kartätsche stel¬ len können. Es ist heillos. Den Abend blieb ich in Fontana Fredda, wo ich, nach dem Namen zu urthei¬

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/237>, abgerufen am 26.04.2024.