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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Charakter des Bildungswesens in England, Frankreich und
Deutschland.

England entbehrt in seinem Bildungswesen von allen Staaten
Europas am meisten der Verwaltung. Es hat kein Ministerium des
Unterrichts, sondern nur das Committee for Education im Privy Council,
das nur mit einem Theile des Volksschulwesens zu thun hat. Die
Universities sind ganz ständische Anstalten, eben so die Colleges; der
übrige Unterricht beruht auf Privatanstalten. Dagegen sind für Bil-
dung und Gesittung die beiden andern Faktoren, der gewerbliche Besitz
und die Presse, freier und thätiger als in irgend einem Lande Europas.
Die Folge ist der stark ausgeprägte Charakter der Individualität in
der Bildung, bei großem Mangel der Bildung in den untern Classen.

Frankreich dagegen hat sich, nach fast gänzlicher Bewältigung der
ständischen Elemente, sein Bildungswesen unter Napoleon I. durch Gesetz
vom 17. März 1808 büreaukratisch als ein administratives, auf jedem
Punkte unter der amtlichen Verwaltung stehendes Ganze organisirt,
indem es dasselbe als Instruction publique, als reine Verwaltungsaufgabe
ansah, und dem gesammten Bildungsorganismus von dem höchsten
Lehrkörper bis zur mindesten Volksschule herab als "Universite" hin-
stellt, welche die Instruction primaire (Elementarbildung), secondaire
(Vorbildung) und superieure (Fachbildung) umfaßt. Dadurch ist der
freien Bewegung des Geistes eine enge Schranke gezogen, welche durch
die Rechtlosigkeit der Selbstverwaltungskörper und des Vereinswesens
noch enger und härter, und durch eine allgemeine thätige und freie
Presse nicht ganz gut gemacht werden kann.

Das Bildungswesen Deutschlands hat den einzig richtigen Weg
eingeschlagen, indem es zunächst jedes Gebiet für sich gründlich nach
allen Richtungen bearbeitet hat. Es hat dadurch die Fähigkeit behal-
ten, jeden Theil des Ganzen sich in seiner Eigenthümlichkeit nach seinen
Bedürfnissen und Forderungen entwickeln zu lassen, ohne doch die Lei-
tung des Ganzen aufzugeben. Allerdings wird es dadurch schwer, die
Einheit in Anschauung und Darstellung, in Gesetz und Thätigkeit fest-
zuhalten; dafür aber wirken namentlich in neuester Zeit seit Befreiung
der Presse alle drei Elemente gleichmäßig und in großer Kraft, und es
ist durch dieß Zusammenwirken kein Zweifel, daß Deutschland in jeder
Beziehung den ersten Rang im Bildungswesen Europas einnimmt,
indem es die innere und äußere Einheit Frankreichs mit der freien
individuellen Bildung Englands verbindet.

Die übrigen Völker Europas haben sich nun meistens formell dem
französischen, dem Inhalte nach dem deutschen angeschlossen; und so

Charakter des Bildungsweſens in England, Frankreich und
Deutſchland.

England entbehrt in ſeinem Bildungsweſen von allen Staaten
Europas am meiſten der Verwaltung. Es hat kein Miniſterium des
Unterrichts, ſondern nur das Committee for Education im Privy Council,
das nur mit einem Theile des Volksſchulweſens zu thun hat. Die
Universities ſind ganz ſtändiſche Anſtalten, eben ſo die Colleges; der
übrige Unterricht beruht auf Privatanſtalten. Dagegen ſind für Bil-
dung und Geſittung die beiden andern Faktoren, der gewerbliche Beſitz
und die Preſſe, freier und thätiger als in irgend einem Lande Europas.
Die Folge iſt der ſtark ausgeprägte Charakter der Individualität in
der Bildung, bei großem Mangel der Bildung in den untern Claſſen.

Frankreich dagegen hat ſich, nach faſt gänzlicher Bewältigung der
ſtändiſchen Elemente, ſein Bildungsweſen unter Napoleon I. durch Geſetz
vom 17. März 1808 büreaukratiſch als ein adminiſtratives, auf jedem
Punkte unter der amtlichen Verwaltung ſtehendes Ganze organiſirt,
indem es daſſelbe als Instruction publique, als reine Verwaltungsaufgabe
anſah, und dem geſammten Bildungsorganismus von dem höchſten
Lehrkörper bis zur mindeſten Volksſchule herab als „Université“ hin-
ſtellt, welche die Instruction primaire (Elementarbildung), secondaire
(Vorbildung) und supérieure (Fachbildung) umfaßt. Dadurch iſt der
freien Bewegung des Geiſtes eine enge Schranke gezogen, welche durch
die Rechtloſigkeit der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens
noch enger und härter, und durch eine allgemeine thätige und freie
Preſſe nicht ganz gut gemacht werden kann.

Das Bildungsweſen Deutſchlands hat den einzig richtigen Weg
eingeſchlagen, indem es zunächſt jedes Gebiet für ſich gründlich nach
allen Richtungen bearbeitet hat. Es hat dadurch die Fähigkeit behal-
ten, jeden Theil des Ganzen ſich in ſeiner Eigenthümlichkeit nach ſeinen
Bedürfniſſen und Forderungen entwickeln zu laſſen, ohne doch die Lei-
tung des Ganzen aufzugeben. Allerdings wird es dadurch ſchwer, die
Einheit in Anſchauung und Darſtellung, in Geſetz und Thätigkeit feſt-
zuhalten; dafür aber wirken namentlich in neueſter Zeit ſeit Befreiung
der Preſſe alle drei Elemente gleichmäßig und in großer Kraft, und es
iſt durch dieß Zuſammenwirken kein Zweifel, daß Deutſchland in jeder
Beziehung den erſten Rang im Bildungsweſen Europas einnimmt,
indem es die innere und äußere Einheit Frankreichs mit der freien
individuellen Bildung Englands verbindet.

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franzöſiſchen, dem Inhalte nach dem deutſchen angeſchloſſen; und ſo

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[116/0140] Charakter des Bildungsweſens in England, Frankreich und Deutſchland. England entbehrt in ſeinem Bildungsweſen von allen Staaten Europas am meiſten der Verwaltung. Es hat kein Miniſterium des Unterrichts, ſondern nur das Committee for Education im Privy Council, das nur mit einem Theile des Volksſchulweſens zu thun hat. Die Universities ſind ganz ſtändiſche Anſtalten, eben ſo die Colleges; der übrige Unterricht beruht auf Privatanſtalten. Dagegen ſind für Bil- dung und Geſittung die beiden andern Faktoren, der gewerbliche Beſitz und die Preſſe, freier und thätiger als in irgend einem Lande Europas. Die Folge iſt der ſtark ausgeprägte Charakter der Individualität in der Bildung, bei großem Mangel der Bildung in den untern Claſſen. Frankreich dagegen hat ſich, nach faſt gänzlicher Bewältigung der ſtändiſchen Elemente, ſein Bildungsweſen unter Napoleon I. durch Geſetz vom 17. März 1808 büreaukratiſch als ein adminiſtratives, auf jedem Punkte unter der amtlichen Verwaltung ſtehendes Ganze organiſirt, indem es daſſelbe als Instruction publique, als reine Verwaltungsaufgabe anſah, und dem geſammten Bildungsorganismus von dem höchſten Lehrkörper bis zur mindeſten Volksſchule herab als „Université“ hin- ſtellt, welche die Instruction primaire (Elementarbildung), secondaire (Vorbildung) und supérieure (Fachbildung) umfaßt. Dadurch iſt der freien Bewegung des Geiſtes eine enge Schranke gezogen, welche durch die Rechtloſigkeit der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens noch enger und härter, und durch eine allgemeine thätige und freie Preſſe nicht ganz gut gemacht werden kann. Das Bildungsweſen Deutſchlands hat den einzig richtigen Weg eingeſchlagen, indem es zunächſt jedes Gebiet für ſich gründlich nach allen Richtungen bearbeitet hat. Es hat dadurch die Fähigkeit behal- ten, jeden Theil des Ganzen ſich in ſeiner Eigenthümlichkeit nach ſeinen Bedürfniſſen und Forderungen entwickeln zu laſſen, ohne doch die Lei- tung des Ganzen aufzugeben. Allerdings wird es dadurch ſchwer, die Einheit in Anſchauung und Darſtellung, in Geſetz und Thätigkeit feſt- zuhalten; dafür aber wirken namentlich in neueſter Zeit ſeit Befreiung der Preſſe alle drei Elemente gleichmäßig und in großer Kraft, und es iſt durch dieß Zuſammenwirken kein Zweifel, daß Deutſchland in jeder Beziehung den erſten Rang im Bildungsweſen Europas einnimmt, indem es die innere und äußere Einheit Frankreichs mit der freien individuellen Bildung Englands verbindet. Die übrigen Völker Europas haben ſich nun meiſtens formell dem franzöſiſchen, dem Inhalte nach dem deutſchen angeſchloſſen; und ſo

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/140>, abgerufen am 26.04.2024.