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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Ferne", so schloß er, "werde ich nicht aufhören für Euer wahres Glück zu
sorgen." Feindseliger Worte enthielt er sich, weil ihm Nesselrode vor-
stellte, welchen üblen Eindruck ein öffentlicher Tadel in Europa hinter-
lassen würde.*)

Was man auch zu klagen hatte, eine unerträgliche Willkürherrschaft
lastete nicht auf dem Lande. Durchaus der Wahrheit gemäß gestanden
späterhin Mochnacki und andere Führer der radicalen Emigranten: nicht
gegen russischen Druck hätten die Polen sich erhoben, sondern um ihre
alte Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 zurückzugewinnen. Von
dem Tage an, da dies halb selbständige Königreich aufgerichtet wurde,
waren alle namhaften Männer des Adels einig in der Hoffnung auf
völlige Wiederherstellung, auf Wiedervereinigung mit den verlorenen Brü-
dern in Posen und Westpreußen, in Litthauen und Podolien. Redlich,
ohne Hintergedanken schloß sich fast Niemand der neuen Herrschaft an.

In den langen Jahrhunderten, da die Nachbarn zu sagen pflegten:
"Polen besteht nur durch Unordnung," waren diesem unseligen Volke
die schlichten Tugenden des Bürgers ganz verloren gegangen; der pol-
nische Edelmann verstand nur für sein Vaterland zu kämpfen, zu leiden
und Verschwörungen zu schmieden, nicht ihm zu dienen in nüchterner
Arbeit. Sogar Alexander's Freund Fürst Adam Czartoryski wiederholte
dem Kaiser unablässig: dies Königreich, das um ein Drittel kleiner sei
als das Herzogthum Warschau, könne nur als eine Abschlagszahlung,
eine pierre d'attente gelten; und er handelte nach seinen Worten, er
mißbrauchte sein Amt als Curator der Universität Wilna um seinen
Lehrbezirk zu polonisiren und für die Einverleibung vorzubereiten -- bis
sein nachsichtiger Gönner ihm endlich doch das gefährliche Handwerk legen
mußte. Die ganze Geschichte dieser anderthalb Jahrzehnte war nur
eine Kette von Verschwörungen. Erst der nationale Freimaurerbund,
nachher die Patriotische Gesellschaft beherrschte das Königreich sowie die
Nachbargebiete durch Sendboten und geheime Vereine. Bald waren die
gesammte gebildete Jugend, der Landadel und der größte Theil der
Offiziere für die Verschwörung gewonnen; nur die Bauern hielten sich
fern, desgleichen das neue Bürgerthum, dessen erste Keime jetzt unter
dem Schutze einer geordneten Verwaltung aufzusprießen begannen. Ver-
geblich suchte sich die Krone durch eine spüreifrige geheime Polizei zu
decken. Als es im Jahre 1827 endlich gelang, einige der Häupter, Mit-
wisser der russischen Dekabristen, aufzugreifen, da wurden sie trotz erwie-
sener Schuld von dem höchsten Staatsgerichtshofe, dem Senate theils frei-
gesprochen, theils zu lächerlich geringen Strafen verurtheilt; und Adam
Czartoryski selbst, der liebenswürdige, feingebildete Führer der gemäßigten
aristokratischen Partei verfaßte dies Urtheil, das jedem Rechte ins Ge-

*) Schmidt's Bericht, 29. Juni 1830.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Ferne“, ſo ſchloß er, „werde ich nicht aufhören für Euer wahres Glück zu
ſorgen.“ Feindſeliger Worte enthielt er ſich, weil ihm Neſſelrode vor-
ſtellte, welchen üblen Eindruck ein öffentlicher Tadel in Europa hinter-
laſſen würde.*)

Was man auch zu klagen hatte, eine unerträgliche Willkürherrſchaft
laſtete nicht auf dem Lande. Durchaus der Wahrheit gemäß geſtanden
ſpäterhin Mochnacki und andere Führer der radicalen Emigranten: nicht
gegen ruſſiſchen Druck hätten die Polen ſich erhoben, ſondern um ihre
alte Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 zurückzugewinnen. Von
dem Tage an, da dies halb ſelbſtändige Königreich aufgerichtet wurde,
waren alle namhaften Männer des Adels einig in der Hoffnung auf
völlige Wiederherſtellung, auf Wiedervereinigung mit den verlorenen Brü-
dern in Poſen und Weſtpreußen, in Litthauen und Podolien. Redlich,
ohne Hintergedanken ſchloß ſich faſt Niemand der neuen Herrſchaft an.

In den langen Jahrhunderten, da die Nachbarn zu ſagen pflegten:
„Polen beſteht nur durch Unordnung,“ waren dieſem unſeligen Volke
die ſchlichten Tugenden des Bürgers ganz verloren gegangen; der pol-
niſche Edelmann verſtand nur für ſein Vaterland zu kämpfen, zu leiden
und Verſchwörungen zu ſchmieden, nicht ihm zu dienen in nüchterner
Arbeit. Sogar Alexander’s Freund Fürſt Adam Czartoryski wiederholte
dem Kaiſer unabläſſig: dies Königreich, das um ein Drittel kleiner ſei
als das Herzogthum Warſchau, könne nur als eine Abſchlagszahlung,
eine pierre d’attente gelten; und er handelte nach ſeinen Worten, er
mißbrauchte ſein Amt als Curator der Univerſität Wilna um ſeinen
Lehrbezirk zu poloniſiren und für die Einverleibung vorzubereiten — bis
ſein nachſichtiger Gönner ihm endlich doch das gefährliche Handwerk legen
mußte. Die ganze Geſchichte dieſer anderthalb Jahrzehnte war nur
eine Kette von Verſchwörungen. Erſt der nationale Freimaurerbund,
nachher die Patriotiſche Geſellſchaft beherrſchte das Königreich ſowie die
Nachbargebiete durch Sendboten und geheime Vereine. Bald waren die
geſammte gebildete Jugend, der Landadel und der größte Theil der
Offiziere für die Verſchwörung gewonnen; nur die Bauern hielten ſich
fern, desgleichen das neue Bürgerthum, deſſen erſte Keime jetzt unter
dem Schutze einer geordneten Verwaltung aufzuſprießen begannen. Ver-
geblich ſuchte ſich die Krone durch eine ſpüreifrige geheime Polizei zu
decken. Als es im Jahre 1827 endlich gelang, einige der Häupter, Mit-
wiſſer der ruſſiſchen Dekabriſten, aufzugreifen, da wurden ſie trotz erwie-
ſener Schuld von dem höchſten Staatsgerichtshofe, dem Senate theils frei-
geſprochen, theils zu lächerlich geringen Strafen verurtheilt; und Adam
Czartoryski ſelbſt, der liebenswürdige, feingebildete Führer der gemäßigten
ariſtokratiſchen Partei verfaßte dies Urtheil, das jedem Rechte ins Ge-

*) Schmidt’s Bericht, 29. Juni 1830.
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[58/0072] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. Ferne“, ſo ſchloß er, „werde ich nicht aufhören für Euer wahres Glück zu ſorgen.“ Feindſeliger Worte enthielt er ſich, weil ihm Neſſelrode vor- ſtellte, welchen üblen Eindruck ein öffentlicher Tadel in Europa hinter- laſſen würde. *) Was man auch zu klagen hatte, eine unerträgliche Willkürherrſchaft laſtete nicht auf dem Lande. Durchaus der Wahrheit gemäß geſtanden ſpäterhin Mochnacki und andere Führer der radicalen Emigranten: nicht gegen ruſſiſchen Druck hätten die Polen ſich erhoben, ſondern um ihre alte Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 zurückzugewinnen. Von dem Tage an, da dies halb ſelbſtändige Königreich aufgerichtet wurde, waren alle namhaften Männer des Adels einig in der Hoffnung auf völlige Wiederherſtellung, auf Wiedervereinigung mit den verlorenen Brü- dern in Poſen und Weſtpreußen, in Litthauen und Podolien. Redlich, ohne Hintergedanken ſchloß ſich faſt Niemand der neuen Herrſchaft an. In den langen Jahrhunderten, da die Nachbarn zu ſagen pflegten: „Polen beſteht nur durch Unordnung,“ waren dieſem unſeligen Volke die ſchlichten Tugenden des Bürgers ganz verloren gegangen; der pol- niſche Edelmann verſtand nur für ſein Vaterland zu kämpfen, zu leiden und Verſchwörungen zu ſchmieden, nicht ihm zu dienen in nüchterner Arbeit. Sogar Alexander’s Freund Fürſt Adam Czartoryski wiederholte dem Kaiſer unabläſſig: dies Königreich, das um ein Drittel kleiner ſei als das Herzogthum Warſchau, könne nur als eine Abſchlagszahlung, eine pierre d’attente gelten; und er handelte nach ſeinen Worten, er mißbrauchte ſein Amt als Curator der Univerſität Wilna um ſeinen Lehrbezirk zu poloniſiren und für die Einverleibung vorzubereiten — bis ſein nachſichtiger Gönner ihm endlich doch das gefährliche Handwerk legen mußte. Die ganze Geſchichte dieſer anderthalb Jahrzehnte war nur eine Kette von Verſchwörungen. Erſt der nationale Freimaurerbund, nachher die Patriotiſche Geſellſchaft beherrſchte das Königreich ſowie die Nachbargebiete durch Sendboten und geheime Vereine. Bald waren die geſammte gebildete Jugend, der Landadel und der größte Theil der Offiziere für die Verſchwörung gewonnen; nur die Bauern hielten ſich fern, desgleichen das neue Bürgerthum, deſſen erſte Keime jetzt unter dem Schutze einer geordneten Verwaltung aufzuſprießen begannen. Ver- geblich ſuchte ſich die Krone durch eine ſpüreifrige geheime Polizei zu decken. Als es im Jahre 1827 endlich gelang, einige der Häupter, Mit- wiſſer der ruſſiſchen Dekabriſten, aufzugreifen, da wurden ſie trotz erwie- ſener Schuld von dem höchſten Staatsgerichtshofe, dem Senate theils frei- geſprochen, theils zu lächerlich geringen Strafen verurtheilt; und Adam Czartoryski ſelbſt, der liebenswürdige, feingebildete Führer der gemäßigten ariſtokratiſchen Partei verfaßte dies Urtheil, das jedem Rechte ins Ge- *) Schmidt’s Bericht, 29. Juni 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/72>, abgerufen am 26.04.2024.