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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Mächte auf seiner Seite. Am 15. November ward ihm der Triumph,
daß die Bevollmächtigten der Londoner Conferenz mit seinem Gesandten
van de Weyer einen Vertrag schlossen und das Königreich Belgien, auf
Grund der Vierundzwanzig Artikel, förmlich anerkannten. Im nächsten
Monat verständigte er sich sodann mit den Mächten des alten Vierbundes
über die längst beabsichtigte Schleifung von fünf festen Plätzen an der
Südgrenze. Frankreich wurde von dieser Verhandlung ausgeschlossen und
seine lärmenden Klagen über den "infamen" Festungsvertrag blieben ohne
Folgen. --

Also trat, von den großen Mächten mittelbar anerkannt, die belgische
Verfassung in Wirksamkeit. Sie beruhte, wie es nicht anders sein konnte,
auf dem Grundsatze der Volkssouveränität, da der neue Staat sein Dasein
einer Revolution verdankte und zudem die alten Freiheiten der Joyeuses
entrees
, welche den Brabantern sogar das Recht des Widerstandes ge-
währt hatten, noch in frischer Erinnerung standen. "Alle Gewalten gehen
von der Nation aus," so bestimmte ihr wichtigster Artikel. Jedes histo-
rischen Rechtes baar regierte der König nur kraft Vertrages, durch den
Willen des Volks, er mußte sich alljährlich sämmtliche Steuern sowie den
ganzen Bestand des Heeres von den Kammern neu bewilligen lassen und
er konnte solche Abhängigkeit ertragen, weil in diesem neutralen Mittel-
staate weder eine große auswärtige Politik noch ein ernsthaftes Heerwesen
möglich war. Jene republikanische Doctrin Rotteck's und seiner Schüler,
welche den constitutionellen König aller selbständigen Gewalt entkleidete,
war hier mithin noch folgerichtiger durchgeführt als in Frankreichs neuer
Charte. Obgleich das constitutionelle Leben in dem fruchtbaren Erdreich
altniederländischer Gemeindefreiheit tiefere Wurzeln schlagen konnte als
auf dem steinigen Boden des napoleonischen Verwaltungsdespotismus,
so schuf die Revolution doch in Belgien wie in Frankreich nur die Classen-
herrschaft des reichen Bürgerthums. Ein hoher Census schloß die Massen
vom Wahlrechte aus, so daß in den Dörfern erst auf 104 Einwohner
ein Wähler kam; die erste Kammer, der Senat, vertrat ausschließlich das
Groß-Capital, im ganzen Lande waren nur 403 Männer für diese oligar-
chische Körperschaft wählbar.

Mit der Bourgeoisie aber theilte sich der römische Clerus in die
Beherrschung des Staates -- und hierin lag die europäische Bedeutung
des neuen Gemeinwesens. Wenn Richelieu einst gehofft hatte, aus den
spanischen Niederlanden eine katholische Republik zu bilden, die dem streit-
baren Calvinismus der Holländer die Wage halten sollte, so ging der
Traum des Cardinals jetzt herrlich in Erfüllung. Seit dem Herbst 1830
ließ Lamennais zu Paris im Verein mit Pater Lacordaire und dem Grafen
Montalembert die Zeitschrift l'Avenir erscheinen, ein Blatt, das mit
feuriger Beredsamkeit zugleich die römische Weltherrschaft und eine fast
schrankenlose politische Freiheit vertheidigte. Die Leitartikel des Avenir

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Mächte auf ſeiner Seite. Am 15. November ward ihm der Triumph,
daß die Bevollmächtigten der Londoner Conferenz mit ſeinem Geſandten
van de Weyer einen Vertrag ſchloſſen und das Königreich Belgien, auf
Grund der Vierundzwanzig Artikel, förmlich anerkannten. Im nächſten
Monat verſtändigte er ſich ſodann mit den Mächten des alten Vierbundes
über die längſt beabſichtigte Schleifung von fünf feſten Plätzen an der
Südgrenze. Frankreich wurde von dieſer Verhandlung ausgeſchloſſen und
ſeine lärmenden Klagen über den „infamen“ Feſtungsvertrag blieben ohne
Folgen. —

Alſo trat, von den großen Mächten mittelbar anerkannt, die belgiſche
Verfaſſung in Wirkſamkeit. Sie beruhte, wie es nicht anders ſein konnte,
auf dem Grundſatze der Volksſouveränität, da der neue Staat ſein Daſein
einer Revolution verdankte und zudem die alten Freiheiten der Joyeuses
entrées
, welche den Brabantern ſogar das Recht des Widerſtandes ge-
währt hatten, noch in friſcher Erinnerung ſtanden. „Alle Gewalten gehen
von der Nation aus,“ ſo beſtimmte ihr wichtigſter Artikel. Jedes hiſto-
riſchen Rechtes baar regierte der König nur kraft Vertrages, durch den
Willen des Volks, er mußte ſich alljährlich ſämmtliche Steuern ſowie den
ganzen Beſtand des Heeres von den Kammern neu bewilligen laſſen und
er konnte ſolche Abhängigkeit ertragen, weil in dieſem neutralen Mittel-
ſtaate weder eine große auswärtige Politik noch ein ernſthaftes Heerweſen
möglich war. Jene republikaniſche Doctrin Rotteck’s und ſeiner Schüler,
welche den conſtitutionellen König aller ſelbſtändigen Gewalt entkleidete,
war hier mithin noch folgerichtiger durchgeführt als in Frankreichs neuer
Charte. Obgleich das conſtitutionelle Leben in dem fruchtbaren Erdreich
altniederländiſcher Gemeindefreiheit tiefere Wurzeln ſchlagen konnte als
auf dem ſteinigen Boden des napoleoniſchen Verwaltungsdespotismus,
ſo ſchuf die Revolution doch in Belgien wie in Frankreich nur die Claſſen-
herrſchaft des reichen Bürgerthums. Ein hoher Cenſus ſchloß die Maſſen
vom Wahlrechte aus, ſo daß in den Dörfern erſt auf 104 Einwohner
ein Wähler kam; die erſte Kammer, der Senat, vertrat ausſchließlich das
Groß-Capital, im ganzen Lande waren nur 403 Männer für dieſe oligar-
chiſche Körperſchaft wählbar.

Mit der Bourgeoiſie aber theilte ſich der römiſche Clerus in die
Beherrſchung des Staates — und hierin lag die europäiſche Bedeutung
des neuen Gemeinweſens. Wenn Richelieu einſt gehofft hatte, aus den
ſpaniſchen Niederlanden eine katholiſche Republik zu bilden, die dem ſtreit-
baren Calvinismus der Holländer die Wage halten ſollte, ſo ging der
Traum des Cardinals jetzt herrlich in Erfüllung. Seit dem Herbſt 1830
ließ Lamennais zu Paris im Verein mit Pater Lacordaire und dem Grafen
Montalembert die Zeitſchrift l’Avenir erſcheinen, ein Blatt, das mit
feuriger Beredſamkeit zugleich die römiſche Weltherrſchaft und eine faſt
ſchrankenloſe politiſche Freiheit vertheidigte. Die Leitartikel des Avenir

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[80/0094] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. Mächte auf ſeiner Seite. Am 15. November ward ihm der Triumph, daß die Bevollmächtigten der Londoner Conferenz mit ſeinem Geſandten van de Weyer einen Vertrag ſchloſſen und das Königreich Belgien, auf Grund der Vierundzwanzig Artikel, förmlich anerkannten. Im nächſten Monat verſtändigte er ſich ſodann mit den Mächten des alten Vierbundes über die längſt beabſichtigte Schleifung von fünf feſten Plätzen an der Südgrenze. Frankreich wurde von dieſer Verhandlung ausgeſchloſſen und ſeine lärmenden Klagen über den „infamen“ Feſtungsvertrag blieben ohne Folgen. — Alſo trat, von den großen Mächten mittelbar anerkannt, die belgiſche Verfaſſung in Wirkſamkeit. Sie beruhte, wie es nicht anders ſein konnte, auf dem Grundſatze der Volksſouveränität, da der neue Staat ſein Daſein einer Revolution verdankte und zudem die alten Freiheiten der Joyeuses entrées, welche den Brabantern ſogar das Recht des Widerſtandes ge- währt hatten, noch in friſcher Erinnerung ſtanden. „Alle Gewalten gehen von der Nation aus,“ ſo beſtimmte ihr wichtigſter Artikel. Jedes hiſto- riſchen Rechtes baar regierte der König nur kraft Vertrages, durch den Willen des Volks, er mußte ſich alljährlich ſämmtliche Steuern ſowie den ganzen Beſtand des Heeres von den Kammern neu bewilligen laſſen und er konnte ſolche Abhängigkeit ertragen, weil in dieſem neutralen Mittel- ſtaate weder eine große auswärtige Politik noch ein ernſthaftes Heerweſen möglich war. Jene republikaniſche Doctrin Rotteck’s und ſeiner Schüler, welche den conſtitutionellen König aller ſelbſtändigen Gewalt entkleidete, war hier mithin noch folgerichtiger durchgeführt als in Frankreichs neuer Charte. Obgleich das conſtitutionelle Leben in dem fruchtbaren Erdreich altniederländiſcher Gemeindefreiheit tiefere Wurzeln ſchlagen konnte als auf dem ſteinigen Boden des napoleoniſchen Verwaltungsdespotismus, ſo ſchuf die Revolution doch in Belgien wie in Frankreich nur die Claſſen- herrſchaft des reichen Bürgerthums. Ein hoher Cenſus ſchloß die Maſſen vom Wahlrechte aus, ſo daß in den Dörfern erſt auf 104 Einwohner ein Wähler kam; die erſte Kammer, der Senat, vertrat ausſchließlich das Groß-Capital, im ganzen Lande waren nur 403 Männer für dieſe oligar- chiſche Körperſchaft wählbar. Mit der Bourgeoiſie aber theilte ſich der römiſche Clerus in die Beherrſchung des Staates — und hierin lag die europäiſche Bedeutung des neuen Gemeinweſens. Wenn Richelieu einſt gehofft hatte, aus den ſpaniſchen Niederlanden eine katholiſche Republik zu bilden, die dem ſtreit- baren Calvinismus der Holländer die Wage halten ſollte, ſo ging der Traum des Cardinals jetzt herrlich in Erfüllung. Seit dem Herbſt 1830 ließ Lamennais zu Paris im Verein mit Pater Lacordaire und dem Grafen Montalembert die Zeitſchrift l’Avenir erſcheinen, ein Blatt, das mit feuriger Beredſamkeit zugleich die römiſche Weltherrſchaft und eine faſt ſchrankenloſe politiſche Freiheit vertheidigte. Die Leitartikel des Avenir

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/94>, abgerufen am 26.04.2024.