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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Innerlichkeit doch wieder Naturstimmung, naiv und somit auch plastisch
ist: in diesem Licht erscheint hier die ganze Welt der Charaktere; sie ha-
ben ihr Centrum außer sich, aber in einem vollen Tausch der Liebe wohnt
es sich ihnen wieder ein; da ist kein Eigensinn, der erst zu brechen, keine
rohe Kraft, die nicht schon ganz in die Gottes-Minne aufgelöst wäre.
Die Gesichtsformen sind nicht die antiken, aber sie sind weich und sanft
und wir haben zu §. 615, 2 vorbereitend schon angedeutet, daß es auch
eine Gediegenheit sanfter Art bei zwar unregelmäßigen Formen geben
könne, die immer noch plastisch sei. Die fließende Gewandung endlich
thut noch namentlich das Ihrige, den einfach großen Linienzug der Um-
risse zu sichern, den alle Bildnerkunst fordert. So bewahrt denn dieser
Styl noch eine plastische Idealität, die uns der Nothwendigkeit über-
hebt, alle die entschuldigenden Rücksichten, welche bei den Verstößen der
mittelalterlichen Bildnerkunst gegen das plastische Stylgesetz in Rechnung
kommen, schon hier geltend zu machen. -- Die Italiener verharrten nun
zwar länger im byzantinischen Typus, erst in der Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts tritt Nicola Pisano auf, der durch liebevolles Studium der
Antike und Naturbeobachtung den Schritt vollzieht, der in Deutschland
schon in jenen sächsischen Sculpturen vollzogen erscheint. Dagegen er-
kennt man in allem weiteren Fortgange, daß dieses romanische Volk von
Haus aus etwas vom classischen Formgefühle bewahrt; der Ausdruck wächst
nicht zu der Innigkeit wie im sog. germanischen Style, aber alle For-
men bilden sich in classisch gefühlter Weise durch und, was das Wich-
tigste ist, die Italiener gehen nicht in den grundverschiedenen Styl über,
der jenem sog. germanischen in Deutschland folgt und vermöge seines In-
dividualismus und Naturalismus spezifisch mehr malerisch zu nennen ist.
Das Malerische dringt bei ihnen zunächst auf einem andern, nicht so
tief gehenden Puncte ein, auf dem es sich zwar in Deutschland auch
geltend macht: der nächste §. wird denselben aufzeigen. Wir haben also
den Gegensatz eines reiner plastischen und mehr malerischen Styls in dop-
pelter Weise: er erscheint als ein nationaler, worin sich die Italiener und
die Deutschen, doch vollständig erst in der Kunstweise der folgenden Pe-
riode, gegenüberstehen, successiv geschichtlich dagegen durchlaufen ihn auch
die Deutschen selbst in ihrer Kunstgeschichte.

§. 644.

Im durchgebildeten ächt mittelalterlichen Style geht diese Anmuth zwar
nicht ganz verloren, wird aber zum bloßen Momente eines Ganzen, worin der
Individualismus und Naturalismus in dem nun erst zu einer reichen geschichtli-
chen Welt auseinandergezogenen Kreise des Ideals mit einer Härte, einer

Innerlichkeit doch wieder Naturſtimmung, naiv und ſomit auch plaſtiſch
iſt: in dieſem Licht erſcheint hier die ganze Welt der Charaktere; ſie ha-
ben ihr Centrum außer ſich, aber in einem vollen Tauſch der Liebe wohnt
es ſich ihnen wieder ein; da iſt kein Eigenſinn, der erſt zu brechen, keine
rohe Kraft, die nicht ſchon ganz in die Gottes-Minne aufgelöst wäre.
Die Geſichtsformen ſind nicht die antiken, aber ſie ſind weich und ſanft
und wir haben zu §. 615, 2 vorbereitend ſchon angedeutet, daß es auch
eine Gediegenheit ſanfter Art bei zwar unregelmäßigen Formen geben
könne, die immer noch plaſtiſch ſei. Die fließende Gewandung endlich
thut noch namentlich das Ihrige, den einfach großen Linienzug der Um-
riſſe zu ſichern, den alle Bildnerkunſt fordert. So bewahrt denn dieſer
Styl noch eine plaſtiſche Idealität, die uns der Nothwendigkeit über-
hebt, alle die entſchuldigenden Rückſichten, welche bei den Verſtößen der
mittelalterlichen Bildnerkunſt gegen das plaſtiſche Stylgeſetz in Rechnung
kommen, ſchon hier geltend zu machen. — Die Italiener verharrten nun
zwar länger im byzantiniſchen Typus, erſt in der Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts tritt Nicola Piſano auf, der durch liebevolles Studium der
Antike und Naturbeobachtung den Schritt vollzieht, der in Deutſchland
ſchon in jenen ſächſiſchen Sculpturen vollzogen erſcheint. Dagegen er-
kennt man in allem weiteren Fortgange, daß dieſes romaniſche Volk von
Haus aus etwas vom claſſiſchen Formgefühle bewahrt; der Ausdruck wächst
nicht zu der Innigkeit wie im ſog. germaniſchen Style, aber alle For-
men bilden ſich in claſſiſch gefühlter Weiſe durch und, was das Wich-
tigſte iſt, die Italiener gehen nicht in den grundverſchiedenen Styl über,
der jenem ſog. germaniſchen in Deutſchland folgt und vermöge ſeines In-
dividualiſmus und Naturaliſmus ſpezifiſch mehr maleriſch zu nennen iſt.
Das Maleriſche dringt bei ihnen zunächſt auf einem andern, nicht ſo
tief gehenden Puncte ein, auf dem es ſich zwar in Deutſchland auch
geltend macht: der nächſte §. wird denſelben aufzeigen. Wir haben alſo
den Gegenſatz eines reiner plaſtiſchen und mehr maleriſchen Styls in dop-
pelter Weiſe: er erſcheint als ein nationaler, worin ſich die Italiener und
die Deutſchen, doch vollſtändig erſt in der Kunſtweiſe der folgenden Pe-
riode, gegenüberſtehen, ſucceſſiv geſchichtlich dagegen durchlaufen ihn auch
die Deutſchen ſelbſt in ihrer Kunſtgeſchichte.

§. 644.

Im durchgebildeten ächt mittelalterlichen Style geht dieſe Anmuth zwar
nicht ganz verloren, wird aber zum bloßen Momente eines Ganzen, worin der
Individualiſmus und Naturaliſmus in dem nun erſt zu einer reichen geſchichtli-
chen Welt auseinandergezogenen Kreiſe des Ideals mit einer Härte, einer

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[487/0161] Innerlichkeit doch wieder Naturſtimmung, naiv und ſomit auch plaſtiſch iſt: in dieſem Licht erſcheint hier die ganze Welt der Charaktere; ſie ha- ben ihr Centrum außer ſich, aber in einem vollen Tauſch der Liebe wohnt es ſich ihnen wieder ein; da iſt kein Eigenſinn, der erſt zu brechen, keine rohe Kraft, die nicht ſchon ganz in die Gottes-Minne aufgelöst wäre. Die Geſichtsformen ſind nicht die antiken, aber ſie ſind weich und ſanft und wir haben zu §. 615, 2 vorbereitend ſchon angedeutet, daß es auch eine Gediegenheit ſanfter Art bei zwar unregelmäßigen Formen geben könne, die immer noch plaſtiſch ſei. Die fließende Gewandung endlich thut noch namentlich das Ihrige, den einfach großen Linienzug der Um- riſſe zu ſichern, den alle Bildnerkunſt fordert. So bewahrt denn dieſer Styl noch eine plaſtiſche Idealität, die uns der Nothwendigkeit über- hebt, alle die entſchuldigenden Rückſichten, welche bei den Verſtößen der mittelalterlichen Bildnerkunſt gegen das plaſtiſche Stylgeſetz in Rechnung kommen, ſchon hier geltend zu machen. — Die Italiener verharrten nun zwar länger im byzantiniſchen Typus, erſt in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts tritt Nicola Piſano auf, der durch liebevolles Studium der Antike und Naturbeobachtung den Schritt vollzieht, der in Deutſchland ſchon in jenen ſächſiſchen Sculpturen vollzogen erſcheint. Dagegen er- kennt man in allem weiteren Fortgange, daß dieſes romaniſche Volk von Haus aus etwas vom claſſiſchen Formgefühle bewahrt; der Ausdruck wächst nicht zu der Innigkeit wie im ſog. germaniſchen Style, aber alle For- men bilden ſich in claſſiſch gefühlter Weiſe durch und, was das Wich- tigſte iſt, die Italiener gehen nicht in den grundverſchiedenen Styl über, der jenem ſog. germaniſchen in Deutſchland folgt und vermöge ſeines In- dividualiſmus und Naturaliſmus ſpezifiſch mehr maleriſch zu nennen iſt. Das Maleriſche dringt bei ihnen zunächſt auf einem andern, nicht ſo tief gehenden Puncte ein, auf dem es ſich zwar in Deutſchland auch geltend macht: der nächſte §. wird denſelben aufzeigen. Wir haben alſo den Gegenſatz eines reiner plaſtiſchen und mehr maleriſchen Styls in dop- pelter Weiſe: er erſcheint als ein nationaler, worin ſich die Italiener und die Deutſchen, doch vollſtändig erſt in der Kunſtweiſe der folgenden Pe- riode, gegenüberſtehen, ſucceſſiv geſchichtlich dagegen durchlaufen ihn auch die Deutſchen ſelbſt in ihrer Kunſtgeſchichte. §. 644. Im durchgebildeten ächt mittelalterlichen Style geht dieſe Anmuth zwar nicht ganz verloren, wird aber zum bloßen Momente eines Ganzen, worin der Individualiſmus und Naturaliſmus in dem nun erſt zu einer reichen geſchichtli- chen Welt auseinandergezogenen Kreiſe des Ideals mit einer Härte, einer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/161>, abgerufen am 26.04.2024.