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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 15. Die gedichte des Aristoteles.
sein leben gelassen hat. Aristoteles dachte von der tugend anders;
aber er versuchte in die alten formen einen neuen inhalt zu legen,
seine sittlichen ideale, seine religion. wir zollen dem klugen stilisten
unsere anerkennung gern, wir freuen uns an der geschicklichkeit des
durch die kritik zum dichter gewordenen gelehrten, wir beugen uns
vor der erhabenheit des im edelsten sinne religiösen mannes und vor
dem pietätvollen schmerze des freundes: aber die widersprüche und
die unvollkommenheiten solcher poesie, die aus nachahmung und an-
passung entsteht, dürfen wir nicht verkennen. wer ein wirklicher dichter
ist, der schafft sich selbst seine symbolik. das konnte Aristoteles nicht.
zu einem gotte, wie der des Platon und Aristoteles ist, kann man nicht
beten, und das lied ist für den dienst dieses gottes keine angemessene
form mehr. aber das gefühl, das einst die heroen und dann den So-
krates und jetzt den Platon und den Aristoteles so leben und so sterben
lehrte wie sie getan, die treibende kraft in ihrem busen, die ihnen
dazu verholfen hat, gut und glücklich zu sein und die arete zur exis
zu haben, sodass wir sie jetzt wie tausende vor und nach uns als heroen
verehren dürfen, dieses gefühl, das ihnen vielmehr die tugend gab als
sie die tugend suchen lehrte, und das ihnen doch immer wieder tugend
und glück als unerreichtes und doch erreichbares ziel zeigte, dies gefühl
empfanden sie als unmittelbar wirkende gottheit, das verdichtete sich
ihnen, da sie doch Hellenen waren, zu einer göttlichen person, und
diesem gotte konnten sie auch hymnen dichten: Eros ist der rechte gott
oder vielmehr daemon für diese religion, der mittler zwischen der men-
schenseele und der seele des universums, dem reinen nous, der idea
tou kalou. dem hat Platon seine hymnen gesungen, echte poesie, in
inhalt und form ganz und einig, und ganz sein eigen.

Die
elegie an
Eudemos.
Es kann nicht anders sein und gerade die geschichte der helle-
nischen philosophie bestätigt es, dass das bedürfnis des frommen herzens,
zu verehren und anzubeten, sich den menschen zuwendet, in denen das
göttliche leibhaft waltet, wenn die persönlichen götter (mögen es viele oder
einer sein, die zahl ist überhaupt ganz gleichgiltig), die sich der mensch nach
seinem bilde erschaffen hat, nicht mehr genügen, und der unpersönliche
gott zu hoch rückt, als dass sich der sterbliche auch nur der hoffnung
eines persönlichen verhältnisses zu ihm unterfange. unschätzbar ist
das document dafür, dass Aristoteles einmal so zu Platon aufgeblickt hat,
die elegie an Eudemos, die aus dem commentare des Olympiodoros zum
Gorgias zuerst Menagius veröffentlicht hat. erhalten dürfte auch dieses
bruchstück durch die biographen sein.


III. 15. Die gedichte des Aristoteles.
sein leben gelassen hat. Aristoteles dachte von der tugend anders;
aber er versuchte in die alten formen einen neuen inhalt zu legen,
seine sittlichen ideale, seine religion. wir zollen dem klugen stilisten
unsere anerkennung gern, wir freuen uns an der geschicklichkeit des
durch die kritik zum dichter gewordenen gelehrten, wir beugen uns
vor der erhabenheit des im edelsten sinne religiösen mannes und vor
dem pietätvollen schmerze des freundes: aber die widersprüche und
die unvollkommenheiten solcher poesie, die aus nachahmung und an-
passung entsteht, dürfen wir nicht verkennen. wer ein wirklicher dichter
ist, der schafft sich selbst seine symbolik. das konnte Aristoteles nicht.
zu einem gotte, wie der des Platon und Aristoteles ist, kann man nicht
beten, und das lied ist für den dienst dieses gottes keine angemessene
form mehr. aber das gefühl, das einst die heroen und dann den So-
krates und jetzt den Platon und den Aristoteles so leben und so sterben
lehrte wie sie getan, die treibende kraft in ihrem busen, die ihnen
dazu verholfen hat, gut und glücklich zu sein und die ἀϱετή zur ἕξις
zu haben, sodaſs wir sie jetzt wie tausende vor und nach uns als heroen
verehren dürfen, dieses gefühl, das ihnen vielmehr die tugend gab als
sie die tugend suchen lehrte, und das ihnen doch immer wieder tugend
und glück als unerreichtes und doch erreichbares ziel zeigte, dies gefühl
empfanden sie als unmittelbar wirkende gottheit, das verdichtete sich
ihnen, da sie doch Hellenen waren, zu einer göttlichen person, und
diesem gotte konnten sie auch hymnen dichten: Eros ist der rechte gott
oder vielmehr daemon für diese religion, der mittler zwischen der men-
schenseele und der seele des universums, dem reinen νοῦς, der ἰδέα
τοῦ καλοῦ. dem hat Platon seine hymnen gesungen, echte poesie, in
inhalt und form ganz und einig, und ganz sein eigen.

Die
elegie an
Eudemos.
Es kann nicht anders sein und gerade die geschichte der helle-
nischen philosophie bestätigt es, daſs das bedürfnis des frommen herzens,
zu verehren und anzubeten, sich den menschen zuwendet, in denen das
göttliche leibhaft waltet, wenn die persönlichen götter (mögen es viele oder
einer sein, die zahl ist überhaupt ganz gleichgiltig), die sich der mensch nach
seinem bilde erschaffen hat, nicht mehr genügen, und der unpersönliche
gott zu hoch rückt, als daſs sich der sterbliche auch nur der hoffnung
eines persönlichen verhältnisses zu ihm unterfange. unschätzbar ist
das document dafür, daſs Aristoteles einmal so zu Platon aufgeblickt hat,
die elegie an Eudemos, die aus dem commentare des Olympiodoros zum
Gorgias zuerst Menagius veröffentlicht hat. erhalten dürfte auch dieses
bruchstück durch die biographen sein.


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[412/0422] III. 15. Die gedichte des Aristoteles. sein leben gelassen hat. Aristoteles dachte von der tugend anders; aber er versuchte in die alten formen einen neuen inhalt zu legen, seine sittlichen ideale, seine religion. wir zollen dem klugen stilisten unsere anerkennung gern, wir freuen uns an der geschicklichkeit des durch die kritik zum dichter gewordenen gelehrten, wir beugen uns vor der erhabenheit des im edelsten sinne religiösen mannes und vor dem pietätvollen schmerze des freundes: aber die widersprüche und die unvollkommenheiten solcher poesie, die aus nachahmung und an- passung entsteht, dürfen wir nicht verkennen. wer ein wirklicher dichter ist, der schafft sich selbst seine symbolik. das konnte Aristoteles nicht. zu einem gotte, wie der des Platon und Aristoteles ist, kann man nicht beten, und das lied ist für den dienst dieses gottes keine angemessene form mehr. aber das gefühl, das einst die heroen und dann den So- krates und jetzt den Platon und den Aristoteles so leben und so sterben lehrte wie sie getan, die treibende kraft in ihrem busen, die ihnen dazu verholfen hat, gut und glücklich zu sein und die ἀϱετή zur ἕξις zu haben, sodaſs wir sie jetzt wie tausende vor und nach uns als heroen verehren dürfen, dieses gefühl, das ihnen vielmehr die tugend gab als sie die tugend suchen lehrte, und das ihnen doch immer wieder tugend und glück als unerreichtes und doch erreichbares ziel zeigte, dies gefühl empfanden sie als unmittelbar wirkende gottheit, das verdichtete sich ihnen, da sie doch Hellenen waren, zu einer göttlichen person, und diesem gotte konnten sie auch hymnen dichten: Eros ist der rechte gott oder vielmehr daemon für diese religion, der mittler zwischen der men- schenseele und der seele des universums, dem reinen νοῦς, der ἰδέα τοῦ καλοῦ. dem hat Platon seine hymnen gesungen, echte poesie, in inhalt und form ganz und einig, und ganz sein eigen. Es kann nicht anders sein und gerade die geschichte der helle- nischen philosophie bestätigt es, daſs das bedürfnis des frommen herzens, zu verehren und anzubeten, sich den menschen zuwendet, in denen das göttliche leibhaft waltet, wenn die persönlichen götter (mögen es viele oder einer sein, die zahl ist überhaupt ganz gleichgiltig), die sich der mensch nach seinem bilde erschaffen hat, nicht mehr genügen, und der unpersönliche gott zu hoch rückt, als daſs sich der sterbliche auch nur der hoffnung eines persönlichen verhältnisses zu ihm unterfange. unschätzbar ist das document dafür, daſs Aristoteles einmal so zu Platon aufgeblickt hat, die elegie an Eudemos, die aus dem commentare des Olympiodoros zum Gorgias zuerst Menagius veröffentlicht hat. erhalten dürfte auch dieses bruchstück durch die biographen sein. Die elegie an Eudemos.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/422>, abgerufen am 26.04.2024.