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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Drittes Capitel.
A.
Von dem
älteren Stile,
und dessen Ei-
genschaften.

Die Eigenschaften des ältern und ersten Stils der Hetrurischen Künst-
ler, sind erstlich die geraden Linien ihrer Zeichnung, nebst der steifen Stel-
lung und der gezwungenen Handlung ihrer Figuren, und zweytens der
unvollkommene Begriff der Schönheit des Gesichts. Die erste Eigenschaft
bestehet darinn, daß der Umriß der Figuren sich wenig senket und erhebet,
und dieses verursachet, daß dieselben dünne und spillenmäßig aussehen,
(ob gleich Catullus sagt, der dicke Hetrurier 1,) weil die Muskeln wenig
angedeutet sind; es fehlet also in diesem Stile die Mannigfaltigkeit. In
dieser Zeichnung lieget zum Theil die Ursache von der steifen Stellung, vor-
nehmlich aber in der Unwissenheit der ersten Zeiten: denn die Mannigfal-
tigkeit in Stellung und Handlung kann ohne hinlängliche Kenntniß des
Körpers, und ohne Freyheit in der Zeichnung, nicht ausgedruckt und ge-
bildet werden; die Kunst fängt, wie die Weisheit, mit Erkenntniß unser
selbst an. Die zweyte Eigenschaft, nemlich der unvollkommene Begriff
der Schönheit des Gesichts, war, wie in der ältesten Kunst der Griechen,
auch bey den Hetruriern. Die Form der Köpfe ist ein länglich gezogenes
Oval, welches durch ein spitziges Kinn kleinlich scheinet; die Augen sind
entweder platt, oder schräg aufwerts gezogen, und liegen mit dem Augen-
knochen gleich.

Diese Eigenschaften sind eben dieselben, welche wir bey den ältesten
Aegyptischen Figuren bestimmet haben, und hierdurch wird Stückweis deut-
licher, was im ersten Capitel aus alten Scribenten von der Aehnlichkeit
der Aegyptischen und der Hetrurischen Figuren angezeiget worden. Man
hat sich die Figuren dieses Stils als einen einfältig geschnittenen Rock aus
geraden Theilen vorzustellen, bey welchem, die ihn machten und trugen,
eine Zeitlang blieben; jene künstelten nicht, und diesen war es zur Bede-
ckung genug; der erste hatte eine Figur so gezeichnet, und andere zeichneten
ihm nach. Es war auch ein gewisser Schlag von Gesichtern angenommen,

wovon
I Theil. Drittes Capitel.
A.
Von dem
aͤlteren Stile,
und deſſen Ei-
genſchaften.

Die Eigenſchaften des aͤltern und erſten Stils der Hetruriſchen Kuͤnſt-
ler, ſind erſtlich die geraden Linien ihrer Zeichnung, nebſt der ſteifen Stel-
lung und der gezwungenen Handlung ihrer Figuren, und zweytens der
unvollkommene Begriff der Schoͤnheit des Geſichts. Die erſte Eigenſchaft
beſtehet darinn, daß der Umriß der Figuren ſich wenig ſenket und erhebet,
und dieſes verurſachet, daß dieſelben duͤnne und ſpillenmaͤßig ausſehen,
(ob gleich Catullus ſagt, der dicke Hetrurier 1,) weil die Muskeln wenig
angedeutet ſind; es fehlet alſo in dieſem Stile die Mannigfaltigkeit. In
dieſer Zeichnung lieget zum Theil die Urſache von der ſteifen Stellung, vor-
nehmlich aber in der Unwiſſenheit der erſten Zeiten: denn die Mannigfal-
tigkeit in Stellung und Handlung kann ohne hinlaͤngliche Kenntniß des
Koͤrpers, und ohne Freyheit in der Zeichnung, nicht ausgedruckt und ge-
bildet werden; die Kunſt faͤngt, wie die Weisheit, mit Erkenntniß unſer
ſelbſt an. Die zweyte Eigenſchaft, nemlich der unvollkommene Begriff
der Schoͤnheit des Geſichts, war, wie in der aͤlteſten Kunſt der Griechen,
auch bey den Hetruriern. Die Form der Koͤpfe iſt ein laͤnglich gezogenes
Oval, welches durch ein ſpitziges Kinn kleinlich ſcheinet; die Augen ſind
entweder platt, oder ſchraͤg aufwerts gezogen, und liegen mit dem Augen-
knochen gleich.

Dieſe Eigenſchaften ſind eben dieſelben, welche wir bey den aͤlteſten
Aegyptiſchen Figuren beſtimmet haben, und hierdurch wird Stuͤckweis deut-
licher, was im erſten Capitel aus alten Scribenten von der Aehnlichkeit
der Aegyptiſchen und der Hetruriſchen Figuren angezeiget worden. Man
hat ſich die Figuren dieſes Stils als einen einfaͤltig geſchnittenen Rock aus
geraden Theilen vorzuſtellen, bey welchem, die ihn machten und trugen,
eine Zeitlang blieben; jene kuͤnſtelten nicht, und dieſen war es zur Bede-
ckung genug; der erſte hatte eine Figur ſo gezeichnet, und andere zeichneten
ihm nach. Es war auch ein gewiſſer Schlag von Geſichtern angenommen,

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[106/0156] I Theil. Drittes Capitel. Die Eigenſchaften des aͤltern und erſten Stils der Hetruriſchen Kuͤnſt- ler, ſind erſtlich die geraden Linien ihrer Zeichnung, nebſt der ſteifen Stel- lung und der gezwungenen Handlung ihrer Figuren, und zweytens der unvollkommene Begriff der Schoͤnheit des Geſichts. Die erſte Eigenſchaft beſtehet darinn, daß der Umriß der Figuren ſich wenig ſenket und erhebet, und dieſes verurſachet, daß dieſelben duͤnne und ſpillenmaͤßig ausſehen, (ob gleich Catullus ſagt, der dicke Hetrurier 1,) weil die Muskeln wenig angedeutet ſind; es fehlet alſo in dieſem Stile die Mannigfaltigkeit. In dieſer Zeichnung lieget zum Theil die Urſache von der ſteifen Stellung, vor- nehmlich aber in der Unwiſſenheit der erſten Zeiten: denn die Mannigfal- tigkeit in Stellung und Handlung kann ohne hinlaͤngliche Kenntniß des Koͤrpers, und ohne Freyheit in der Zeichnung, nicht ausgedruckt und ge- bildet werden; die Kunſt faͤngt, wie die Weisheit, mit Erkenntniß unſer ſelbſt an. Die zweyte Eigenſchaft, nemlich der unvollkommene Begriff der Schoͤnheit des Geſichts, war, wie in der aͤlteſten Kunſt der Griechen, auch bey den Hetruriern. Die Form der Koͤpfe iſt ein laͤnglich gezogenes Oval, welches durch ein ſpitziges Kinn kleinlich ſcheinet; die Augen ſind entweder platt, oder ſchraͤg aufwerts gezogen, und liegen mit dem Augen- knochen gleich. Dieſe Eigenſchaften ſind eben dieſelben, welche wir bey den aͤlteſten Aegyptiſchen Figuren beſtimmet haben, und hierdurch wird Stuͤckweis deut- licher, was im erſten Capitel aus alten Scribenten von der Aehnlichkeit der Aegyptiſchen und der Hetruriſchen Figuren angezeiget worden. Man hat ſich die Figuren dieſes Stils als einen einfaͤltig geſchnittenen Rock aus geraden Theilen vorzuſtellen, bey welchem, die ihn machten und trugen, eine Zeitlang blieben; jene kuͤnſtelten nicht, und dieſen war es zur Bede- ckung genug; der erſte hatte eine Figur ſo gezeichnet, und andere zeichneten ihm nach. Es war auch ein gewiſſer Schlag von Geſichtern angenommen, wovon

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/156>, abgerufen am 26.04.2024.