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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
nemlich in Carls le Brün Abhandlung von den Leidenschaften. In den
Zeichnungen zu denselben ist nicht allein der äußerste Grad der Leidenschaf-
ten in den Gesichtern geleget, sondern in etlichen sind dieselben bis zur Ra-
serey vorgestellet. Man glaubet den Ausdruck zu lehren auf die Art, wie
Diogenes lebete; ich mache es, sagte er, wie die Musici, welche, um in
den rechten Ton zu kommen, im Anstimmen hoch angeben. Aber da die
feurige Jugend geneigter ist, die äußersten Enden, als das Mittel zu er-
greifen, so wird sie auf diesem Wege schwerlich in den wahren Ton kom-
men, da es schwer ist, dieselbe darinn zu erhalten.



cc Von der
Proportion.

Nach der allgemeinen Betrachtung der Schönheit ist zum ersten von
a Allgemein.der Proportion, und zum zweyten von der Schönheit einzelner Theile des
Menschlichen Körpers, zu reden. Der Bau des Menschlichen Körpers be-
stehet aus der dritten, als der ersten ungleichen Zahl, welches die erste
Verhältnißzahl ist: denn sie enthält die erste gerade Zahl und eine andere
in sich, welche beyde mit einander verbindet. Zwey Dinge können, wie
Plato sagt 1), ohne ein drittes nicht bestehen; das beste Band ist dasjenige,
welches sich selbst und das verbundene auf das beste zu eins machet, so daß
sich das erste zu dem zweyten verhält, wie dieses zu dem Mittlern. Daher
ist in dieser Zahl Anfang, Mittel und Ende, und durch die Zahl drey sind,
wie die Pythagoräer lehren 2), alle Dinge bestimmet.

Der Körper so wohl, als die vornehmsten Glieder, haben drey Theile:
an jenem sind es der Leib, die Schenkel, und die Beine; das Untertheil
sind die Schenkel, die Beine und Füße; und so verhält es sich mit den
Armen, Händen und Füßen. Eben dieses ließe sich von einigen andern
Theilen, welche nicht so deutlich aus dreyen zusammengesetzet sind, zeigen.
Das Verhältniß unter diesen drey Theilen ist im Ganzen wie in dessen

Theilen,
1) in Timaco, p. 477. lin. ult. ed. Bas.
2) Aristot. de cael. & mund. L. 1.

I Theil. Viertes Capitel.
nemlich in Carls le Bruͤn Abhandlung von den Leidenſchaften. In den
Zeichnungen zu denſelben iſt nicht allein der aͤußerſte Grad der Leidenſchaf-
ten in den Geſichtern geleget, ſondern in etlichen ſind dieſelben bis zur Ra-
ſerey vorgeſtellet. Man glaubet den Ausdruck zu lehren auf die Art, wie
Diogenes lebete; ich mache es, ſagte er, wie die Muſici, welche, um in
den rechten Ton zu kommen, im Anſtimmen hoch angeben. Aber da die
feurige Jugend geneigter iſt, die aͤußerſten Enden, als das Mittel zu er-
greifen, ſo wird ſie auf dieſem Wege ſchwerlich in den wahren Ton kom-
men, da es ſchwer iſt, dieſelbe darinn zu erhalten.



cc Von der
Proportion.

Nach der allgemeinen Betrachtung der Schoͤnheit iſt zum erſten von
α Allgemein.der Proportion, und zum zweyten von der Schoͤnheit einzelner Theile des
Menſchlichen Koͤrpers, zu reden. Der Bau des Menſchlichen Koͤrpers be-
ſtehet aus der dritten, als der erſten ungleichen Zahl, welches die erſte
Verhaͤltnißzahl iſt: denn ſie enthaͤlt die erſte gerade Zahl und eine andere
in ſich, welche beyde mit einander verbindet. Zwey Dinge koͤnnen, wie
Plato ſagt 1), ohne ein drittes nicht beſtehen; das beſte Band iſt dasjenige,
welches ſich ſelbſt und das verbundene auf das beſte zu eins machet, ſo daß
ſich das erſte zu dem zweyten verhaͤlt, wie dieſes zu dem Mittlern. Daher
iſt in dieſer Zahl Anfang, Mittel und Ende, und durch die Zahl drey ſind,
wie die Pythagoraͤer lehren 2), alle Dinge beſtimmet.

Der Koͤrper ſo wohl, als die vornehmſten Glieder, haben drey Theile:
an jenem ſind es der Leib, die Schenkel, und die Beine; das Untertheil
ſind die Schenkel, die Beine und Fuͤße; und ſo verhaͤlt es ſich mit den
Armen, Haͤnden und Fuͤßen. Eben dieſes ließe ſich von einigen andern
Theilen, welche nicht ſo deutlich aus dreyen zuſammengeſetzet ſind, zeigen.
Das Verhaͤltniß unter dieſen drey Theilen iſt im Ganzen wie in deſſen

Theilen,
1) in Timaco, p. 477. lin. ult. ed. Baſ.
2) Ariſtot. de cael. & mund. L. 1.
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[172/0222] I Theil. Viertes Capitel. nemlich in Carls le Bruͤn Abhandlung von den Leidenſchaften. In den Zeichnungen zu denſelben iſt nicht allein der aͤußerſte Grad der Leidenſchaf- ten in den Geſichtern geleget, ſondern in etlichen ſind dieſelben bis zur Ra- ſerey vorgeſtellet. Man glaubet den Ausdruck zu lehren auf die Art, wie Diogenes lebete; ich mache es, ſagte er, wie die Muſici, welche, um in den rechten Ton zu kommen, im Anſtimmen hoch angeben. Aber da die feurige Jugend geneigter iſt, die aͤußerſten Enden, als das Mittel zu er- greifen, ſo wird ſie auf dieſem Wege ſchwerlich in den wahren Ton kom- men, da es ſchwer iſt, dieſelbe darinn zu erhalten. Nach der allgemeinen Betrachtung der Schoͤnheit iſt zum erſten von der Proportion, und zum zweyten von der Schoͤnheit einzelner Theile des Menſchlichen Koͤrpers, zu reden. Der Bau des Menſchlichen Koͤrpers be- ſtehet aus der dritten, als der erſten ungleichen Zahl, welches die erſte Verhaͤltnißzahl iſt: denn ſie enthaͤlt die erſte gerade Zahl und eine andere in ſich, welche beyde mit einander verbindet. Zwey Dinge koͤnnen, wie Plato ſagt 1), ohne ein drittes nicht beſtehen; das beſte Band iſt dasjenige, welches ſich ſelbſt und das verbundene auf das beſte zu eins machet, ſo daß ſich das erſte zu dem zweyten verhaͤlt, wie dieſes zu dem Mittlern. Daher iſt in dieſer Zahl Anfang, Mittel und Ende, und durch die Zahl drey ſind, wie die Pythagoraͤer lehren 2), alle Dinge beſtimmet. α Allgemein. Der Koͤrper ſo wohl, als die vornehmſten Glieder, haben drey Theile: an jenem ſind es der Leib, die Schenkel, und die Beine; das Untertheil ſind die Schenkel, die Beine und Fuͤße; und ſo verhaͤlt es ſich mit den Armen, Haͤnden und Fuͤßen. Eben dieſes ließe ſich von einigen andern Theilen, welche nicht ſo deutlich aus dreyen zuſammengeſetzet ſind, zeigen. Das Verhaͤltniß unter dieſen drey Theilen iſt im Ganzen wie in deſſen Theilen, 1) in Timaco, p. 477. lin. ult. ed. Baſ. 2) Ariſtot. de cael. & mund. L. 1.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/222>, abgerufen am 26.04.2024.