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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
sich selbst genugsam, und biethet sich nicht an, sondern will gesuchet
werden; sie ist zu erhaben, um sich sehr sinnlich zu machen: denn "das
Höchste hat,
" wie Plato sagt 1), "kein Bild." Mit den Weisen
allein unterhält sie sich, und dem Pöbel erscheinet sie störrisch und unfreund-
lich; sie verschließet in sich die Bewegungen der Seele, und nähert sich der
seeligen Stille der Göttlichen Natur, von welcher sich die großen Künstler,
wie die Alten schreiben, ein Bild zu entwerfen suchten 2). Die Griechen
würden jene Gratie mit der Jonischen, und diese mit der Dorischen Har-
monie verglichen haben.

Diese Gratie in Werken der Kunst scheinet schon der göttliche Dich-
ter gekannt zu haben, und er hat dieselbe in dem Bilde der mit dem Vulca-
nus vermählten schönen und leichtbekleideten Aglaia, oder Thalia 3),
vorgestellet, die daher anderswo dessen Mitgehülfinn genennet wird 4),
und arbeitete mit demselben an der Schöpfung der Göttlichen Pandora 5).
Dieses war die Gratie, welche Pallas über den Ulysses ausgoß 6), und
von welcher der hohe Pindarus singet 7); dieser Gratie opferten die
Künstler des hohen Stils. Mit dem Phidias wirkete sie in Bildung des
Olympischen Jupiters, auf dessen Fußschemmel dieselbe neben dem Jupiter
auf dem Wagen der Sonne stand 8): sie wölbete, wie in dem Urbilde des
Künstlers, den stolzen Bogen seiner Augenbranen mit Liebe, und goß
Huld und Gnade aus über den Blick seiner Majestät. Sie krönete mit
ihren Geschwistern, und den Göttinnen der Stunden und der Schönhei-
ten, das Haupt der Juno zu Argos 9), als ihr Werk, woran sie sich er-
kannte, und an welchem sie dem Polycletus die Hand führete. In der
Sosandra des Calamis lächelte sie mit Unschuld und Verborgenheit; sie

ver-
1) Politico, p. 127. l. 43.
2) Plato Politicor. s. p. 466. l. 34.
3) Hom. Il. s. v. 382. & Paus. l. c. p. 781. l. 4.
4) Plato Politico, p. 123. l. 9.
5) Hesiod. Gen. Deor. v. 583.
6) Hom. Od. th. v. 18.
7) Olymp. I. v. 9.
8) Paus. L. 5. p. 403. l. 4.
9) Id. L. 2. p. 148. l. 15.

Von der Kunſt unter den Griechen.
ſich ſelbſt genugſam, und biethet ſich nicht an, ſondern will geſuchet
werden; ſie iſt zu erhaben, um ſich ſehr ſinnlich zu machen: denn „das
Hoͤchſte hat,
„ wie Plato ſagt 1), „kein Bild.„ Mit den Weiſen
allein unterhaͤlt ſie ſich, und dem Poͤbel erſcheinet ſie ſtoͤrriſch und unfreund-
lich; ſie verſchließet in ſich die Bewegungen der Seele, und naͤhert ſich der
ſeeligen Stille der Goͤttlichen Natur, von welcher ſich die großen Kuͤnſtler,
wie die Alten ſchreiben, ein Bild zu entwerfen ſuchten 2). Die Griechen
wuͤrden jene Gratie mit der Joniſchen, und dieſe mit der Doriſchen Har-
monie verglichen haben.

Dieſe Gratie in Werken der Kunſt ſcheinet ſchon der goͤttliche Dich-
ter gekannt zu haben, und er hat dieſelbe in dem Bilde der mit dem Vulca-
nus vermaͤhlten ſchoͤnen und leichtbekleideten Aglaia, oder Thalia 3),
vorgeſtellet, die daher anderswo deſſen Mitgehuͤlfinn genennet wird 4),
und arbeitete mit demſelben an der Schoͤpfung der Goͤttlichen Pandora 5).
Dieſes war die Gratie, welche Pallas uͤber den Ulyſſes ausgoß 6), und
von welcher der hohe Pindarus ſinget 7); dieſer Gratie opferten die
Kuͤnſtler des hohen Stils. Mit dem Phidias wirkete ſie in Bildung des
Olympiſchen Jupiters, auf deſſen Fußſchemmel dieſelbe neben dem Jupiter
auf dem Wagen der Sonne ſtand 8): ſie woͤlbete, wie in dem Urbilde des
Kuͤnſtlers, den ſtolzen Bogen ſeiner Augenbranen mit Liebe, und goß
Huld und Gnade aus uͤber den Blick ſeiner Majeſtaͤt. Sie kroͤnete mit
ihren Geſchwiſtern, und den Goͤttinnen der Stunden und der Schoͤnhei-
ten, das Haupt der Juno zu Argos 9), als ihr Werk, woran ſie ſich er-
kannte, und an welchem ſie dem Polycletus die Hand fuͤhrete. In der
Soſandra des Calamis laͤchelte ſie mit Unſchuld und Verborgenheit; ſie

ver-
1) Politico, p. 127. l. 43.
2) Plato Politicor. ς΄. p. 466. l. 34.
3) Hom. Il. σ΄. v. 382. & Pauſ. l. c. p. 781. l. 4.
4) Plato Politico, p. 123. l. 9.
5) Heſiod. Gen. Deor. v. 583.
6) Hom. Od. θ΄. v. 18.
7) Olymp. I. v. 9.
8) Pauſ. L. 5. p. 403. l. 4.
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[231/0281] Von der Kunſt unter den Griechen. ſich ſelbſt genugſam, und biethet ſich nicht an, ſondern will geſuchet werden; ſie iſt zu erhaben, um ſich ſehr ſinnlich zu machen: denn „das Hoͤchſte hat,„ wie Plato ſagt 1), „kein Bild.„ Mit den Weiſen allein unterhaͤlt ſie ſich, und dem Poͤbel erſcheinet ſie ſtoͤrriſch und unfreund- lich; ſie verſchließet in ſich die Bewegungen der Seele, und naͤhert ſich der ſeeligen Stille der Goͤttlichen Natur, von welcher ſich die großen Kuͤnſtler, wie die Alten ſchreiben, ein Bild zu entwerfen ſuchten 2). Die Griechen wuͤrden jene Gratie mit der Joniſchen, und dieſe mit der Doriſchen Har- monie verglichen haben. Dieſe Gratie in Werken der Kunſt ſcheinet ſchon der goͤttliche Dich- ter gekannt zu haben, und er hat dieſelbe in dem Bilde der mit dem Vulca- nus vermaͤhlten ſchoͤnen und leichtbekleideten Aglaia, oder Thalia 3), vorgeſtellet, die daher anderswo deſſen Mitgehuͤlfinn genennet wird 4), und arbeitete mit demſelben an der Schoͤpfung der Goͤttlichen Pandora 5). Dieſes war die Gratie, welche Pallas uͤber den Ulyſſes ausgoß 6), und von welcher der hohe Pindarus ſinget 7); dieſer Gratie opferten die Kuͤnſtler des hohen Stils. Mit dem Phidias wirkete ſie in Bildung des Olympiſchen Jupiters, auf deſſen Fußſchemmel dieſelbe neben dem Jupiter auf dem Wagen der Sonne ſtand 8): ſie woͤlbete, wie in dem Urbilde des Kuͤnſtlers, den ſtolzen Bogen ſeiner Augenbranen mit Liebe, und goß Huld und Gnade aus uͤber den Blick ſeiner Majeſtaͤt. Sie kroͤnete mit ihren Geſchwiſtern, und den Goͤttinnen der Stunden und der Schoͤnhei- ten, das Haupt der Juno zu Argos 9), als ihr Werk, woran ſie ſich er- kannte, und an welchem ſie dem Polycletus die Hand fuͤhrete. In der Soſandra des Calamis laͤchelte ſie mit Unſchuld und Verborgenheit; ſie ver- 1) Politico, p. 127. l. 43. 2) Plato Politicor. ς΄. p. 466. l. 34. 3) Hom. Il. σ΄. v. 382. & Pauſ. l. c. p. 781. l. 4. 4) Plato Politico, p. 123. l. 9. 5) Heſiod. Gen. Deor. v. 583. 6) Hom. Od. θ΄. v. 18. 7) Olymp. I. v. 9. 8) Pauſ. L. 5. p. 403. l. 4. 9) Id. L. 2. p. 148. l. 15.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/281>, abgerufen am 26.04.2024.