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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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hier finden wir die Verstreuung der Kennzeichen der Minderwertigkeit
über den Stammbaum in verschiedenen Formen.

Alexandra E., 5 Jahre alt, stand wegen häufig rezidivierender
Conjunctivitis catarrhalis und Blepharitis squamosa in Behandlung. Seit
2 Jahren tritt auch zeitlich unabhängig von Reizzuständen des Auges
Blepharospasmus auf, der zeitweilig aussetzt und lange Pausen macht.
Die Mutter war als Kind wegen Strabismus convergens operiert worden,
hat beiderseits Astigmatismus und geringe Myopie.

III. Morphologische Kennzeichen.

Unsere Betrachtung über die Minderwertigkeit der Organe versetzt
die Anfänge der Minderwertigkeit in die Zeit des embryonalen Wachs-
tums. So ist auch die Bedeutung der Heredität und der "Kinderfehler"
im weitesten Sinne des Wortes verständlich, ihr Zusammenhang er-
sichtlich. Die Klarstellung von Organerkrankung, Heredität und Kinder-
fehler ermöglicht für viele Fälle den Beweis einer Organminderwertig-
keit, gestattet in anderen Fällen zum wenigsten den Verdacht auszu-
sprechen. Ein weiterer diagnostischer Behelf, dessen Bedeutung sich der
der anderen drei anschließt, liegt in der Auffindung morphologischer
Verkümmerungen, Verbildungen, "Degenerationszeichen", die wir als
morphologische Minderwertigkeiten bereits allgemein gekennzeichnet
haben.

Die Organminderwertigkeit setzt sich im Individuum in der Regel
genetisch durch und hindert embryonal oder funktionell zusammenge-
hörige Teile an ihrer vollen Ausbildung. Meist kann man gleichzeitig
die Insuffizienz eines zweiten oder dritten Organes erschließen,
was begreiflich erscheint, da die Ursache der Organminderwertigkeiten
in einem ausgebreiteten Mangel des Bildungsmateriales gelegen sein
kann. Die Pathologie rechnet mit Degenerationen der inneren Organe
in bestimmten Krankheitsfällen. Außerhalb dieser Krankheitsfälle haben
wir in den Kinderfehlern eine periphere Äußerung von Organminder-
wertigkeiten kennen gelernt. Wenn nun von dieser embryonalen
Hemmung eine Spur bis an die äußeren Körpergrenzen reicht
und sich so dem Auge des Forschers verrät, so geschieht dies
in Gestalt der allgemein bekannten Degenerationszeichen
, über
die heute eine große Fülle von Beobachtungen und Deutungen vorliegt.
Ihre Wertung ist keine einheitliche. So viel ich aber sehe, gehen die
Schlüsse, die an das Wesen der Degenerationszeichen geknüpft werden,
allzusehr ins allgemeine, oder beschränken sich darauf, die degenerative

hier finden wir die Verstreuung der Kennzeichen der Minderwertigkeit
über den Stammbaum in verschiedenen Formen.

Alexandra E., 5 Jahre alt, stand wegen häufig rezidivierender
Conjunctivitis catarrhalis und Blepharitis squamosa in Behandlung. Seit
2 Jahren tritt auch zeitlich unabhängig von Reizzuständen des Auges
Blepharospasmus auf, der zeitweilig aussetzt und lange Pausen macht.
Die Mutter war als Kind wegen Strabismus convergens operiert worden,
hat beiderseits Astigmatismus und geringe Myopie.

III. Morphologische Kennzeichen.

Unsere Betrachtung über die Minderwertigkeit der Organe versetzt
die Anfänge der Minderwertigkeit in die Zeit des embryonalen Wachs-
tums. So ist auch die Bedeutung der Heredität und der „Kinderfehler“
im weitesten Sinne des Wortes verständlich, ihr Zusammenhang er-
sichtlich. Die Klarstellung von Organerkrankung, Heredität und Kinder-
fehler ermöglicht für viele Fälle den Beweis einer Organminderwertig-
keit, gestattet in anderen Fällen zum wenigsten den Verdacht auszu-
sprechen. Ein weiterer diagnostischer Behelf, dessen Bedeutung sich der
der anderen drei anschließt, liegt in der Auffindung morphologischer
Verkümmerungen, Verbildungen, „Degenerationszeichen“, die wir als
morphologische Minderwertigkeiten bereits allgemein gekennzeichnet
haben.

Die Organminderwertigkeit setzt sich im Individuum in der Regel
genetisch durch und hindert embryonal oder funktionell zusammenge-
hörige Teile an ihrer vollen Ausbildung. Meist kann man gleichzeitig
die Insuffizienz eines zweiten oder dritten Organes erschließen,
was begreiflich erscheint, da die Ursache der Organminderwertigkeiten
in einem ausgebreiteten Mangel des Bildungsmateriales gelegen sein
kann. Die Pathologie rechnet mit Degenerationen der inneren Organe
in bestimmten Krankheitsfällen. Außerhalb dieser Krankheitsfälle haben
wir in den Kinderfehlern eine periphere Äußerung von Organminder-
wertigkeiten kennen gelernt. Wenn nun von dieser embryonalen
Hemmung eine Spur bis an die äußeren Körpergrenzen reicht
und sich so dem Auge des Forschers verrät, so geschieht dies
in Gestalt der allgemein bekannten Degenerationszeichen
, über
die heute eine große Fülle von Beobachtungen und Deutungen vorliegt.
Ihre Wertung ist keine einheitliche. So viel ich aber sehe, gehen die
Schlüsse, die an das Wesen der Degenerationszeichen geknüpft werden,
allzusehr ins allgemeine, oder beschränken sich darauf, die degenerative

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[30/0042] hier finden wir die Verstreuung der Kennzeichen der Minderwertigkeit über den Stammbaum in verschiedenen Formen. Alexandra E., 5 Jahre alt, stand wegen häufig rezidivierender Conjunctivitis catarrhalis und Blepharitis squamosa in Behandlung. Seit 2 Jahren tritt auch zeitlich unabhängig von Reizzuständen des Auges Blepharospasmus auf, der zeitweilig aussetzt und lange Pausen macht. Die Mutter war als Kind wegen Strabismus convergens operiert worden, hat beiderseits Astigmatismus und geringe Myopie. III. Morphologische Kennzeichen. Unsere Betrachtung über die Minderwertigkeit der Organe versetzt die Anfänge der Minderwertigkeit in die Zeit des embryonalen Wachs- tums. So ist auch die Bedeutung der Heredität und der „Kinderfehler“ im weitesten Sinne des Wortes verständlich, ihr Zusammenhang er- sichtlich. Die Klarstellung von Organerkrankung, Heredität und Kinder- fehler ermöglicht für viele Fälle den Beweis einer Organminderwertig- keit, gestattet in anderen Fällen zum wenigsten den Verdacht auszu- sprechen. Ein weiterer diagnostischer Behelf, dessen Bedeutung sich der der anderen drei anschließt, liegt in der Auffindung morphologischer Verkümmerungen, Verbildungen, „Degenerationszeichen“, die wir als morphologische Minderwertigkeiten bereits allgemein gekennzeichnet haben. Die Organminderwertigkeit setzt sich im Individuum in der Regel genetisch durch und hindert embryonal oder funktionell zusammenge- hörige Teile an ihrer vollen Ausbildung. Meist kann man gleichzeitig die Insuffizienz eines zweiten oder dritten Organes erschließen, was begreiflich erscheint, da die Ursache der Organminderwertigkeiten in einem ausgebreiteten Mangel des Bildungsmateriales gelegen sein kann. Die Pathologie rechnet mit Degenerationen der inneren Organe in bestimmten Krankheitsfällen. Außerhalb dieser Krankheitsfälle haben wir in den Kinderfehlern eine periphere Äußerung von Organminder- wertigkeiten kennen gelernt. Wenn nun von dieser embryonalen Hemmung eine Spur bis an die äußeren Körpergrenzen reicht und sich so dem Auge des Forschers verrät, so geschieht dies in Gestalt der allgemein bekannten Degenerationszeichen, über die heute eine große Fülle von Beobachtungen und Deutungen vorliegt. Ihre Wertung ist keine einheitliche. So viel ich aber sehe, gehen die Schlüsse, die an das Wesen der Degenerationszeichen geknüpft werden, allzusehr ins allgemeine, oder beschränken sich darauf, die degenerative

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/42>, abgerufen am 26.04.2024.