zum Schmerz und glaubt etwas zu sein, wenn's auch mitla- mentirt. Wer Bauchweh hat, macht ein lyrisches Gedicht. Dar- um unsere hundert nicht auszuhaltende Trauerspiele, und kein Dutzend gute Lustspiele, ja sogar die Misere sentimentaler, auf Thränen berechneter Komödien! Darum statt Verherrli- chung, Verklärung, Vollendung der Natur: deren Herabwürdi- gung, Entstellung, Verfratzung! Darum statt Ernst, Erhe- bung, Reinigung, Heiterkeit, Klarheit des Gedankens, Freude am Schönen, seeligem Genießen: gegentheils nur Schmerzver- zerrung, Niedergedrücktsein, Gemeinheit, Dumpfsinn, Wider- spruch, Zweifelsqual, Lebenszwiespalt und Ueberdruß, und trotz alle dem noch dazu die dummstolze Einbildung: das wäre was. -- Um so deutlicher muß man's rügen. Das ist ja gar nichts. Jede Nähterin und Wäscherin schreibt ja auch von ih- ren Schmerzen und gebrochnem Herzen. Das ist keine Kunst, traurig zu sein in unserer Zeit. Es ist eine Kunst, lustig zu sein. Das versucht, oder hängt Euch auf, wenn Ihr sonst nichts gelernt habt und zu thun wißt, als Euren unschuldigen Mitmenschen mit Eurer und der allgemeinen Misere beschwer- lich zu fallen.
Wie liebenswürdig und küssenswerth steht, oder sitzt viel- mehr, der Eßkünstler Euch gegenüber! Nicht nur er selbst ist seelig in Ausübung seiner Kunst; er erfreut und erquickt durch seine Darstellungen jeden Beschauer. Welch milder Ernst, welche schöne Heiterkeit, welche klassische Ruhe, welch seeliges Genügen umschwebt ihn! Und einen solchen Mann wagen diese ewig nassen zerrissenen Thränenhäderlein über die Achseln anzusehen!
Wie Wenige der neueren Künstler überhaupt können auf ihre kleine Subjektivität resigniren und das Objektive in seiner Reinheit und Urbedeutung erfassen. Wie schauen überall die langhaarigen, weißbekragten, schwarzberockten Deutschen Jüng-
zum Schmerz und glaubt etwas zu ſein, wenn’s auch mitla- mentirt. Wer Bauchweh hat, macht ein lyriſches Gedicht. Dar- um unſere hundert nicht auszuhaltende Trauerſpiele, und kein Dutzend gute Luſtſpiele, ja ſogar die Miſère ſentimentaler, auf Thraͤnen berechneter Komoͤdien! Darum ſtatt Verherrli- chung, Verklaͤrung, Vollendung der Natur: deren Herabwuͤrdi- gung, Entſtellung, Verfratzung! Darum ſtatt Ernſt, Erhe- bung, Reinigung, Heiterkeit, Klarheit des Gedankens, Freude am Schoͤnen, ſeeligem Genießen: gegentheils nur Schmerzver- zerrung, Niedergedruͤcktſein, Gemeinheit, Dumpfſinn, Wider- ſpruch, Zweifelsqual, Lebenszwieſpalt und Ueberdruß, und trotz alle dem noch dazu die dummſtolze Einbildung: das waͤre was. — Um ſo deutlicher muß man’s ruͤgen. Das iſt ja gar nichts. Jede Naͤhterin und Waͤſcherin ſchreibt ja auch von ih- ren Schmerzen und gebrochnem Herzen. Das iſt keine Kunſt, traurig zu ſein in unſerer Zeit. Es iſt eine Kunſt, luſtig zu ſein. Das verſucht, oder haͤngt Euch auf, wenn Ihr ſonſt nichts gelernt habt und zu thun wißt, als Euren unſchuldigen Mitmenſchen mit Eurer und der allgemeinen Miſère beſchwer- lich zu fallen.
Wie liebenswuͤrdig und kuͤſſenswerth ſteht, oder ſitzt viel- mehr, der Eßkuͤnſtler Euch gegenuͤber! Nicht nur er ſelbſt iſt ſeelig in Ausuͤbung ſeiner Kunſt; er erfreut und erquickt durch ſeine Darſtellungen jeden Beſchauer. Welch milder Ernſt, welche ſchoͤne Heiterkeit, welche klaſſiſche Ruhe, welch ſeeliges Genuͤgen umſchwebt ihn! Und einen ſolchen Mann wagen dieſe ewig naſſen zerriſſenen Thraͤnenhaͤderlein uͤber die Achſeln anzuſehen!
Wie Wenige der neueren Kuͤnſtler uͤberhaupt koͤnnen auf ihre kleine Subjektivitaͤt reſigniren und das Objektive in ſeiner Reinheit und Urbedeutung erfaſſen. Wie ſchauen uͤberall die langhaarigen, weißbekragten, ſchwarzberockten Deutſchen Juͤng-
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zum Schmerz und glaubt etwas zu ſein, wenn’s auch mitla-
mentirt. Wer Bauchweh hat, macht ein lyriſches Gedicht. Dar-
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Dutzend gute Luſtſpiele, ja ſogar die Miſère ſentimentaler,
auf Thraͤnen berechneter Komoͤdien! Darum ſtatt Verherrli-
chung, Verklaͤrung, Vollendung der Natur: deren Herabwuͤrdi-
gung, Entſtellung, Verfratzung! Darum ſtatt Ernſt, Erhe-
bung, Reinigung, Heiterkeit, Klarheit des Gedankens, Freude
am Schoͤnen, ſeeligem Genießen: gegentheils nur Schmerzver-
zerrung, Niedergedruͤcktſein, Gemeinheit, Dumpfſinn, Wider-
ſpruch, Zweifelsqual, Lebenszwieſpalt und Ueberdruß, und trotz
alle dem noch dazu die dummſtolze Einbildung: das waͤre
was. — Um ſo deutlicher muß man’s ruͤgen. Das iſt ja gar
nichts. Jede Naͤhterin und Waͤſcherin ſchreibt ja auch von ih-
ren Schmerzen und gebrochnem Herzen. Das iſt keine Kunſt,
traurig zu ſein in unſerer Zeit. Es iſt eine Kunſt, luſtig zu
ſein. Das verſucht, oder haͤngt Euch auf, wenn Ihr ſonſt
nichts gelernt habt und zu thun wißt, als Euren unſchuldigen
Mitmenſchen mit Eurer und der allgemeinen Miſère beſchwer-
lich zu fallen.
Wie liebenswuͤrdig und kuͤſſenswerth ſteht, oder ſitzt viel-
mehr, der Eßkuͤnſtler Euch gegenuͤber! Nicht nur er ſelbſt iſt
ſeelig in Ausuͤbung ſeiner Kunſt; er erfreut und erquickt durch
ſeine Darſtellungen jeden Beſchauer. Welch milder Ernſt,
welche ſchoͤne Heiterkeit, welche klaſſiſche Ruhe, welch ſeeliges
Genuͤgen umſchwebt ihn! Und einen ſolchen Mann wagen
dieſe ewig naſſen zerriſſenen Thraͤnenhaͤderlein uͤber die Achſeln
anzuſehen!
Wie Wenige der neueren Kuͤnſtler uͤberhaupt koͤnnen auf
ihre kleine Subjektivitaͤt reſigniren und das Objektive in ſeiner
Reinheit und Urbedeutung erfaſſen. Wie ſchauen uͤberall die
langhaarigen, weißbekragten, ſchwarzberockten Deutſchen Juͤng-
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/85>, abgerufen am 17.06.2024.
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