Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_659.001
Ziel ohne jenen idealen Mitspieler, den wir nicht wieder zurückführen pba_659.002
können, zu erreichen. Die furchterregende Peripetie der Handlung pba_659.003
zeigt uns die Majestät und Herrschergewalt des Schicksals, um pba_659.004
so mehr, wenn es die Häupter der Besten trifft und durch die besten pba_659.005
Kräfte ihrer Seele sie zu dem verhängnisvollen Fehler pba_659.006
treibt.
Auf der andern Seite ist durch den Anteil der Charakterbeschaffenheit pba_659.007
an der tragischen Wendung der Ausgang genugsam in pba_659.008
das Gebiet der Freiheit und Verantwortlichkeit gerückt, um uns, ohne pba_659.009
daß wir dem Helden das Geringste von unserer Achtung und Liebe pba_659.010
entziehen, das reine Mitleid fühlen zu lassen, das von dem Grausen pba_659.011
über blindtreffendes Verderben ebenso entfernt ist wie von pba_659.012
der lediglich allgemein menschlichen Teilnahme an selbst pba_659.013
verschuldetem Unglück.



pba_659.014
XXX.

pba_659.015
Es ist in den obigen Darlegungen über das Drama verschiedentlich pba_659.016
von der Komödie die Rede gewesen, ebenso ist in einem früheren Abschnitt pba_659.017
von dem Wesen des Lächerlichen gehandelt; allein es fehlt pba_659.018
noch das abschließende Wort über den Begriff und die Aufgabe dieser pba_659.019
dramatischen Gattung. Dem Versuch dieselben darzustellen soll dieser pba_659.020
letzte Abschnitt gewidmet sein.

pba_659.021
Das komische Epos wurde oben definiert: als die vermittelst pba_659.022
der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen, pba_659.023
das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche pba_659.024
Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen pba_659.025
des Lächerlichen und des Wohlgefälligen hervorruft, die wechselseitige pba_659.026
Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht.1

pba_659.027
Die innere Begründung dieser Definition ist in dem vierzehnten pba_659.028
Abschnitt gegeben, der die Darstellung der Theorie des Komischen pba_659.029
zur Aufgabe hat.

pba_659.030
Das Resultat jener Ausführungen für die hier vorliegende Untersuchung pba_659.031
ist der Satz, daß die Empfindungen des Lächerlichen und des pba_659.032
Wohlgefälligen auf dem Gebiete des Komischen eine ganz analoge pba_659.033
Stellung einnehmen, wie die des Mitleids und der Furcht auf dem

1 pba_659.034
S. oben S. 314. Durch einen Druckfehler steht dort "des Wohlthätigen", pba_659.035
statt: "des Wohlgefälligen".

pba_659.001
Ziel ohne jenen idealen Mitspieler, den wir nicht wieder zurückführen pba_659.002
können, zu erreichen. Die furchterregende Peripetie der Handlung pba_659.003
zeigt uns die Majestät und Herrschergewalt des Schicksals, um pba_659.004
so mehr, wenn es die Häupter der Besten trifft und durch die besten pba_659.005
Kräfte ihrer Seele sie zu dem verhängnisvollen Fehler pba_659.006
treibt.
Auf der andern Seite ist durch den Anteil der Charakterbeschaffenheit pba_659.007
an der tragischen Wendung der Ausgang genugsam in pba_659.008
das Gebiet der Freiheit und Verantwortlichkeit gerückt, um uns, ohne pba_659.009
daß wir dem Helden das Geringste von unserer Achtung und Liebe pba_659.010
entziehen, das reine Mitleid fühlen zu lassen, das von dem Grausen pba_659.011
über blindtreffendes Verderben ebenso entfernt ist wie von pba_659.012
der lediglich allgemein menschlichen Teilnahme an selbst pba_659.013
verschuldetem Unglück.



pba_659.014
XXX.

pba_659.015
Es ist in den obigen Darlegungen über das Drama verschiedentlich pba_659.016
von der Komödie die Rede gewesen, ebenso ist in einem früheren Abschnitt pba_659.017
von dem Wesen des Lächerlichen gehandelt; allein es fehlt pba_659.018
noch das abschließende Wort über den Begriff und die Aufgabe dieser pba_659.019
dramatischen Gattung. Dem Versuch dieselben darzustellen soll dieser pba_659.020
letzte Abschnitt gewidmet sein.

pba_659.021
Das komische Epos wurde oben definiert: als die vermittelst pba_659.022
der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen, pba_659.023
das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche pba_659.024
Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen pba_659.025
des Lächerlichen und des Wohlgefälligen hervorruft, die wechselseitige pba_659.026
Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht.1

pba_659.027
Die innere Begründung dieser Definition ist in dem vierzehnten pba_659.028
Abschnitt gegeben, der die Darstellung der Theorie des Komischen pba_659.029
zur Aufgabe hat.

pba_659.030
Das Resultat jener Ausführungen für die hier vorliegende Untersuchung pba_659.031
ist der Satz, daß die Empfindungen des Lächerlichen und des pba_659.032
Wohlgefälligen auf dem Gebiete des Komischen eine ganz analoge pba_659.033
Stellung einnehmen, wie die des Mitleids und der Furcht auf dem

1 pba_659.034
S. oben S. 314. Durch einen Druckfehler steht dort „des Wohlthätigen“, pba_659.035
statt: „des Wohlgefälligen“.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0677" n="659"/><lb n="pba_659.001"/>
Ziel ohne jenen idealen Mitspieler, den wir nicht wieder zurückführen <lb n="pba_659.002"/>
können, zu erreichen. Die <hi rendition="#g">furchterregende Peripetie</hi> der Handlung <lb n="pba_659.003"/>
zeigt uns die <hi rendition="#g">Majestät und Herrschergewalt des Schicksals,</hi> um <lb n="pba_659.004"/>
so mehr, wenn es die Häupter der Besten trifft und <hi rendition="#g">durch die besten <lb n="pba_659.005"/>
Kräfte ihrer Seele sie zu dem verhängnisvollen Fehler <lb n="pba_659.006"/>
treibt.</hi> Auf der andern Seite ist durch den Anteil der Charakterbeschaffenheit <lb n="pba_659.007"/>
an der tragischen Wendung der Ausgang genugsam in <lb n="pba_659.008"/>
das Gebiet der Freiheit und Verantwortlichkeit gerückt, um uns, ohne <lb n="pba_659.009"/>
daß wir dem Helden das Geringste von unserer Achtung und Liebe <lb n="pba_659.010"/>
entziehen, das <hi rendition="#g">reine Mitleid</hi> fühlen zu lassen, das von dem <hi rendition="#g">Grausen <lb n="pba_659.011"/>
über blindtreffendes Verderben ebenso entfernt ist wie von <lb n="pba_659.012"/>
der lediglich allgemein menschlichen Teilnahme an selbst <lb n="pba_659.013"/>
verschuldetem Unglück.</hi></p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <lb n="pba_659.014"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#c">XXX.</hi> </head>
        <p><lb n="pba_659.015"/>
Es ist in den obigen Darlegungen über das Drama verschiedentlich <lb n="pba_659.016"/>
von der <hi rendition="#g">Komödie</hi> die Rede gewesen, ebenso ist in einem früheren Abschnitt <lb n="pba_659.017"/>
von dem Wesen des <hi rendition="#g">Lächerlichen</hi> gehandelt; allein es fehlt <lb n="pba_659.018"/>
noch das abschließende Wort über den Begriff und die Aufgabe dieser <lb n="pba_659.019"/>
dramatischen Gattung. Dem Versuch dieselben darzustellen soll dieser <lb n="pba_659.020"/>
letzte Abschnitt gewidmet sein.</p>
        <p><lb n="pba_659.021"/>
Das <hi rendition="#g">komische Epos</hi> wurde oben definiert: als die vermittelst <lb n="pba_659.022"/>
der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen, <lb n="pba_659.023"/>
das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche <lb n="pba_659.024"/>
Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen <lb n="pba_659.025"/>
des Lächerlichen und des <hi rendition="#g">Wohlgefälligen</hi> hervorruft, die wechselseitige <lb n="pba_659.026"/>
Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht.<note xml:id="pba_659_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_659.034"/>
S. oben S. 314. Durch einen <hi rendition="#g">Druckfehler</hi> steht dort &#x201E;<hi rendition="#g">des Wohlthätigen</hi>&#x201C;, <lb n="pba_659.035"/>
statt: &#x201E;<hi rendition="#g">des Wohlgefälligen</hi>&#x201C;.</note></p>
        <p><lb n="pba_659.027"/>
Die innere Begründung dieser Definition ist in dem <hi rendition="#g">vierzehnten</hi> <lb n="pba_659.028"/>
Abschnitt gegeben, der die Darstellung der <hi rendition="#g">Theorie des Komischen</hi> <lb n="pba_659.029"/>
zur Aufgabe hat.</p>
        <p><lb n="pba_659.030"/>
Das Resultat jener Ausführungen für die hier vorliegende Untersuchung <lb n="pba_659.031"/>
ist der Satz, daß die Empfindungen des <hi rendition="#g">Lächerlichen</hi> und des <lb n="pba_659.032"/> <hi rendition="#g">Wohlgefälligen</hi> auf dem Gebiete des <hi rendition="#g">Komischen</hi> eine ganz analoge <lb n="pba_659.033"/>
Stellung einnehmen, wie die des <hi rendition="#g">Mitleids</hi> und der <hi rendition="#g">Furcht</hi> auf dem
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[659/0677] pba_659.001 Ziel ohne jenen idealen Mitspieler, den wir nicht wieder zurückführen pba_659.002 können, zu erreichen. Die furchterregende Peripetie der Handlung pba_659.003 zeigt uns die Majestät und Herrschergewalt des Schicksals, um pba_659.004 so mehr, wenn es die Häupter der Besten trifft und durch die besten pba_659.005 Kräfte ihrer Seele sie zu dem verhängnisvollen Fehler pba_659.006 treibt. Auf der andern Seite ist durch den Anteil der Charakterbeschaffenheit pba_659.007 an der tragischen Wendung der Ausgang genugsam in pba_659.008 das Gebiet der Freiheit und Verantwortlichkeit gerückt, um uns, ohne pba_659.009 daß wir dem Helden das Geringste von unserer Achtung und Liebe pba_659.010 entziehen, das reine Mitleid fühlen zu lassen, das von dem Grausen pba_659.011 über blindtreffendes Verderben ebenso entfernt ist wie von pba_659.012 der lediglich allgemein menschlichen Teilnahme an selbst pba_659.013 verschuldetem Unglück. pba_659.014 XXX. pba_659.015 Es ist in den obigen Darlegungen über das Drama verschiedentlich pba_659.016 von der Komödie die Rede gewesen, ebenso ist in einem früheren Abschnitt pba_659.017 von dem Wesen des Lächerlichen gehandelt; allein es fehlt pba_659.018 noch das abschließende Wort über den Begriff und die Aufgabe dieser pba_659.019 dramatischen Gattung. Dem Versuch dieselben darzustellen soll dieser pba_659.020 letzte Abschnitt gewidmet sein. pba_659.021 Das komische Epos wurde oben definiert: als die vermittelst pba_659.022 der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen, pba_659.023 das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche pba_659.024 Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen pba_659.025 des Lächerlichen und des Wohlgefälligen hervorruft, die wechselseitige pba_659.026 Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht. 1 pba_659.027 Die innere Begründung dieser Definition ist in dem vierzehnten pba_659.028 Abschnitt gegeben, der die Darstellung der Theorie des Komischen pba_659.029 zur Aufgabe hat. pba_659.030 Das Resultat jener Ausführungen für die hier vorliegende Untersuchung pba_659.031 ist der Satz, daß die Empfindungen des Lächerlichen und des pba_659.032 Wohlgefälligen auf dem Gebiete des Komischen eine ganz analoge pba_659.033 Stellung einnehmen, wie die des Mitleids und der Furcht auf dem 1 pba_659.034 S. oben S. 314. Durch einen Druckfehler steht dort „des Wohlthätigen“, pba_659.035 statt: „des Wohlgefälligen“.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/677
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/677>, abgerufen am 30.04.2024.