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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Bannwald.
würden die oberen Waldesränder durch den jähen Anprall der
Lauinen (die, wie erzählt, ihre regelmäßigen Abzugskanäle oder
"Lauinen-Züge" haben) stark beschädigt und die jeweilig vordersten
Baumreihen wie Strohhalme umgeknickt werden; nach wenigen
Jahrzehnten möchte ein wüster Holz- und Steintrümmerhaufen statt
des schützenden Bannwaldes zu erblicken sein. Diese Vorkehrungs¬
nothwendigkeit sahen die Alpenbewohner schon vor Jahrhunderten
ein und schonten deshalb die geeigneten Waldungen, legten sie "in
Bann", d. h. erklärten sie durch Gemeindebeschluß als unantast¬
bar. Und wie in früheren Zeiten gar oft die Strafe für die
Ueberschreitung eines Gesetzes in ungeheuerliche, mystische, mit dem
Volksaberglauben in engster Beziehung stehende Wunderakte ge¬
kleidet wurde, welche unsichtbare Mächte über den Verbrecher
verhängen, so galten auch die Bäume des Bannwaldes als ge¬
heiligte Gegenstände. Schiller hat diesen Volksglauben in seinen
Wilhelm Tell (3. Akt, 3. Scene) eingewebt. Der Knabe Wal¬
ther
fragt:

"Vater, ists wahr, daß auf dem Berge dort
"Die Bäume bluten, wenn man einen Streich
"Drauf führte mit der Axt --
Tell: Wer sagt das, Knabe?
Walther: Der Meister Hirt erzählts -- die Bäume seien
Gebannt, sagt er, und wer sie schädige,
Dem wachse seine Hand heraus zum Grabe.
Tell: Die Bäume sind gebannt, das ist die Wahrheit.
-- Siehst Du die Firnen dort, die weißen Hörner,
Die hoch bis in den Himmel sich verlieren?
Walther: Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern
Und uns die Schlaglawinen niedersenden.
Tell: So ists, und die Lawinen hätten längst
Den Flecken Altdorf unter ihrer Last
Verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht
Als eine Landwehr sich dagegen stellte.

Der Glaube, daß es blutende Bäume gebe, war im Mittel¬
alter weit verbreitet. Die Blutlinde auf Burg Freienstein bei
Wiesbaden soll ihren Namen daher haben; die heilige Eiche zu

Der Bannwald.
würden die oberen Waldesränder durch den jähen Anprall der
Lauinen (die, wie erzählt, ihre regelmäßigen Abzugskanäle oder
„Lauinen-Züge“ haben) ſtark beſchädigt und die jeweilig vorderſten
Baumreihen wie Strohhalme umgeknickt werden; nach wenigen
Jahrzehnten möchte ein wüſter Holz- und Steintrümmerhaufen ſtatt
des ſchützenden Bannwaldes zu erblicken ſein. Dieſe Vorkehrungs¬
nothwendigkeit ſahen die Alpenbewohner ſchon vor Jahrhunderten
ein und ſchonten deshalb die geeigneten Waldungen, legten ſie „in
Bann“, d. h. erklärten ſie durch Gemeindebeſchluß als unantaſt¬
bar. Und wie in früheren Zeiten gar oft die Strafe für die
Ueberſchreitung eines Geſetzes in ungeheuerliche, myſtiſche, mit dem
Volksaberglauben in engſter Beziehung ſtehende Wunderakte ge¬
kleidet wurde, welche unſichtbare Mächte über den Verbrecher
verhängen, ſo galten auch die Bäume des Bannwaldes als ge¬
heiligte Gegenſtände. Schiller hat dieſen Volksglauben in ſeinen
Wilhelm Tell (3. Akt, 3. Scene) eingewebt. Der Knabe Wal¬
ther
fragt:

„Vater, iſts wahr, daß auf dem Berge dort
„Die Bäume bluten, wenn man einen Streich
„Drauf führte mit der Axt —
Tell: Wer ſagt das, Knabe?
Walther: Der Meiſter Hirt erzählts — die Bäume ſeien
Gebannt, ſagt er, und wer ſie ſchädige,
Dem wachſe ſeine Hand heraus zum Grabe.
Tell: Die Bäume ſind gebannt, das iſt die Wahrheit.
— Siehſt Du die Firnen dort, die weißen Hörner,
Die hoch bis in den Himmel ſich verlieren?
Walther: Das ſind die Gletſcher, die des Nachts ſo donnern
Und uns die Schlaglawinen niederſenden.
Tell: So iſts, und die Lawinen hätten längſt
Den Flecken Altdorf unter ihrer Laſt
Verſchüttet, wenn der Wald dort oben nicht
Als eine Landwehr ſich dagegen ſtellte.

Der Glaube, daß es blutende Bäume gebe, war im Mittel¬
alter weit verbreitet. Die Blutlinde auf Burg Freienſtein bei
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[69/0091] Der Bannwald. würden die oberen Waldesränder durch den jähen Anprall der Lauinen (die, wie erzählt, ihre regelmäßigen Abzugskanäle oder „Lauinen-Züge“ haben) ſtark beſchädigt und die jeweilig vorderſten Baumreihen wie Strohhalme umgeknickt werden; nach wenigen Jahrzehnten möchte ein wüſter Holz- und Steintrümmerhaufen ſtatt des ſchützenden Bannwaldes zu erblicken ſein. Dieſe Vorkehrungs¬ nothwendigkeit ſahen die Alpenbewohner ſchon vor Jahrhunderten ein und ſchonten deshalb die geeigneten Waldungen, legten ſie „in Bann“, d. h. erklärten ſie durch Gemeindebeſchluß als unantaſt¬ bar. Und wie in früheren Zeiten gar oft die Strafe für die Ueberſchreitung eines Geſetzes in ungeheuerliche, myſtiſche, mit dem Volksaberglauben in engſter Beziehung ſtehende Wunderakte ge¬ kleidet wurde, welche unſichtbare Mächte über den Verbrecher verhängen, ſo galten auch die Bäume des Bannwaldes als ge¬ heiligte Gegenſtände. Schiller hat dieſen Volksglauben in ſeinen Wilhelm Tell (3. Akt, 3. Scene) eingewebt. Der Knabe Wal¬ ther fragt: „Vater, iſts wahr, daß auf dem Berge dort „Die Bäume bluten, wenn man einen Streich „Drauf führte mit der Axt — Tell: Wer ſagt das, Knabe? Walther: Der Meiſter Hirt erzählts — die Bäume ſeien Gebannt, ſagt er, und wer ſie ſchädige, Dem wachſe ſeine Hand heraus zum Grabe. Tell: Die Bäume ſind gebannt, das iſt die Wahrheit. — Siehſt Du die Firnen dort, die weißen Hörner, Die hoch bis in den Himmel ſich verlieren? Walther: Das ſind die Gletſcher, die des Nachts ſo donnern Und uns die Schlaglawinen niederſenden. Tell: So iſts, und die Lawinen hätten längſt Den Flecken Altdorf unter ihrer Laſt Verſchüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr ſich dagegen ſtellte. Der Glaube, daß es blutende Bäume gebe, war im Mittel¬ alter weit verbreitet. Die Blutlinde auf Burg Freienſtein bei Wiesbaden ſoll ihren Namen daher haben; die heilige Eiche zu

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/91>, abgerufen am 02.05.2024.