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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
Nationen der Gegensatz der Sprache. Die Nation erscheint
ganz besonders deutlich als Sprachgenossenschaft. In-
dem die Massen in verschiedenen Ländern allmählich ihre
Sprache eigenthümlich fortbilden, kommt eine Zeit, in der
sich die früheren Sprachgenossen nicht mehr verstehen, weil
ihre Sprachen sich nach und nach geschieden haben. Von
da an erkennen sich die, welche noch dieselbe Sprache reden
und verstehen, als Nationale, und die Anderen, deren Sprache
ihnen unverständlich geworden ist, als Fremde.

Die Sprache ist der Ausdruck des gemeinsamen Geistes
und das Werkzeug des geistigen Verkehrs. Sie wird in der
Familie fortgepflanzt und gleichsam vererbt. Die Mutter-
sprache
hält daher das Bewusztsein der Nationalität in täg-
licher Uebung wach und lebendig. Selbst fremde Rassen
werden durch eine neue Sprache, welche sie in erblicher
Weise aufnehmen, nach und nach geistig umgebildet und er-
halten so die Nationalität, deren Sprache sie reden. In dieser
Weise sind die germanischen Ostgothen und Longobarden nach
und nach in Italien zu Italienern, die Kelten, die Franken
und die Burgunder in Frankreich zu Franzosen, die Slaven
und Wenden in Preuszen zu Deutschen geworden.

Wenn in unsern Tagen das Nationalbewusztsein kräftiger
und wirksamer geworden ist, als je zuvor, so haben die
Werke der Sprache, so hat die Litteratur und ganz vor-
züglich die periodische Presse in der Landessprache den
erheblichsten Antheil an dieser Erscheinung. Die nationale
Bewegung hat zumeist ihre Impulse von der nationalen Litte-
ratur empfangen, welche die Gemeinschaft des Denkens und
Empfindens vermittelt und den geistigen Gemeinbesitz er-
weitert.

Dennoch entscheidet auch die Sprache nicht immer über
die Nationalität. Daher sind die Begriffe Nation und erbliche
Sprachgenossenschaft nicht völlig gleichbedeutend. Die Be-
wohner der Bretagne und die Basken betrachten sich selbst

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
Nationen der Gegensatz der Sprache. Die Nation erscheint
ganz besonders deutlich als Sprachgenossenschaft. In-
dem die Massen in verschiedenen Ländern allmählich ihre
Sprache eigenthümlich fortbilden, kommt eine Zeit, in der
sich die früheren Sprachgenossen nicht mehr verstehen, weil
ihre Sprachen sich nach und nach geschieden haben. Von
da an erkennen sich die, welche noch dieselbe Sprache reden
und verstehen, als Nationale, und die Anderen, deren Sprache
ihnen unverständlich geworden ist, als Fremde.

Die Sprache ist der Ausdruck des gemeinsamen Geistes
und das Werkzeug des geistigen Verkehrs. Sie wird in der
Familie fortgepflanzt und gleichsam vererbt. Die Mutter-
sprache
hält daher das Bewusztsein der Nationalität in täg-
licher Uebung wach und lebendig. Selbst fremde Rassen
werden durch eine neue Sprache, welche sie in erblicher
Weise aufnehmen, nach und nach geistig umgebildet und er-
halten so die Nationalität, deren Sprache sie reden. In dieser
Weise sind die germanischen Ostgothen und Longobarden nach
und nach in Italien zu Italienern, die Kelten, die Franken
und die Burgunder in Frankreich zu Franzosen, die Slaven
und Wenden in Preuszen zu Deutschen geworden.

Wenn in unsern Tagen das Nationalbewusztsein kräftiger
und wirksamer geworden ist, als je zuvor, so haben die
Werke der Sprache, so hat die Litteratur und ganz vor-
züglich die periodische Presse in der Landessprache den
erheblichsten Antheil an dieser Erscheinung. Die nationale
Bewegung hat zumeist ihre Impulse von der nationalen Litte-
ratur empfangen, welche die Gemeinschaft des Denkens und
Empfindens vermittelt und den geistigen Gemeinbesitz er-
weitert.

Dennoch entscheidet auch die Sprache nicht immer über
die Nationalität. Daher sind die Begriffe Nation und erbliche
Sprachgenossenschaft nicht völlig gleichbedeutend. Die Be-
wohner der Bretagne und die Basken betrachten sich selbst

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[94/0112] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur. Nationen der Gegensatz der Sprache. Die Nation erscheint ganz besonders deutlich als Sprachgenossenschaft. In- dem die Massen in verschiedenen Ländern allmählich ihre Sprache eigenthümlich fortbilden, kommt eine Zeit, in der sich die früheren Sprachgenossen nicht mehr verstehen, weil ihre Sprachen sich nach und nach geschieden haben. Von da an erkennen sich die, welche noch dieselbe Sprache reden und verstehen, als Nationale, und die Anderen, deren Sprache ihnen unverständlich geworden ist, als Fremde. Die Sprache ist der Ausdruck des gemeinsamen Geistes und das Werkzeug des geistigen Verkehrs. Sie wird in der Familie fortgepflanzt und gleichsam vererbt. Die Mutter- sprache hält daher das Bewusztsein der Nationalität in täg- licher Uebung wach und lebendig. Selbst fremde Rassen werden durch eine neue Sprache, welche sie in erblicher Weise aufnehmen, nach und nach geistig umgebildet und er- halten so die Nationalität, deren Sprache sie reden. In dieser Weise sind die germanischen Ostgothen und Longobarden nach und nach in Italien zu Italienern, die Kelten, die Franken und die Burgunder in Frankreich zu Franzosen, die Slaven und Wenden in Preuszen zu Deutschen geworden. Wenn in unsern Tagen das Nationalbewusztsein kräftiger und wirksamer geworden ist, als je zuvor, so haben die Werke der Sprache, so hat die Litteratur und ganz vor- züglich die periodische Presse in der Landessprache den erheblichsten Antheil an dieser Erscheinung. Die nationale Bewegung hat zumeist ihre Impulse von der nationalen Litte- ratur empfangen, welche die Gemeinschaft des Denkens und Empfindens vermittelt und den geistigen Gemeinbesitz er- weitert. Dennoch entscheidet auch die Sprache nicht immer über die Nationalität. Daher sind die Begriffe Nation und erbliche Sprachgenossenschaft nicht völlig gleichbedeutend. Die Be- wohner der Bretagne und die Basken betrachten sich selbst

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/112>, abgerufen am 30.04.2024.