"O Weltgeist, was hast du ge¬ trieben! So grade zu bauen, so toll zu ver¬ schieben! In deinem weiten Königtum Wird alles schief, wird alles krumm, Wo nicht Menschen denken und lieben."
Aus Vischers "Auch Einer".
In meines Vaters Hause am schönen Rhein stand auf einem alten verstaubten Bücherregal in einem halb verschollenen Hauswinkel ein alter gelber Menschenschädel.
Er war vor Zeiten in der Nähe römischer Terrakotten gefunden worden und galt dem guten Glauben als Römer¬ schädel. Generationen lebensfroher Dienstmädchen hatten sich gefürchtet, ihn zur Reinigung je herab zu nehmen. Und so war er freies Reich für eine ebenso lange Geschlechterfolge grauer Achtbeiner geworden, die aus dem finsteren Winkel¬ grunde dahinter herausgekrochen kamen und in den Schädel ihre Nester bauten. Über die alten starren Augenhöhlen bauten sie neue, zarte, watteweiche Lider und dahinter hatten sie Brautbett und Kinderwiege.
Wenn ich an Spinnen denke, so sehe ich dies lustige Spinnenwirtshaus "Zum Totenschädel" wieder vor mir. Ich bin ein Kind und weiß noch nichts von Liebe. Weder von der Liebe der Menschen, noch von der der Spinnen. Nur der Schädel scheint mir uralt und die kleinen wimmelnden
21*
„O Weltgeiſt, was haſt du ge¬ trieben! So grade zu bauen, ſo toll zu ver¬ ſchieben! In deinem weiten Königtum Wird alles ſchief, wird alles krumm, Wo nicht Menſchen denken und lieben.“
Aus Viſchers „Auch Einer“.
In meines Vaters Hauſe am ſchönen Rhein ſtand auf einem alten verſtaubten Bücherregal in einem halb verſchollenen Hauswinkel ein alter gelber Menſchenſchädel.
Er war vor Zeiten in der Nähe römiſcher Terrakotten gefunden worden und galt dem guten Glauben als Römer¬ ſchädel. Generationen lebensfroher Dienſtmädchen hatten ſich gefürchtet, ihn zur Reinigung je herab zu nehmen. Und ſo war er freies Reich für eine ebenſo lange Geſchlechterfolge grauer Achtbeiner geworden, die aus dem finſteren Winkel¬ grunde dahinter herausgekrochen kamen und in den Schädel ihre Neſter bauten. Über die alten ſtarren Augenhöhlen bauten ſie neue, zarte, watteweiche Lider und dahinter hatten ſie Brautbett und Kinderwiege.
Wenn ich an Spinnen denke, ſo ſehe ich dies luſtige Spinnenwirtshaus „Zum Totenſchädel“ wieder vor mir. Ich bin ein Kind und weiß noch nichts von Liebe. Weder von der Liebe der Menſchen, noch von der der Spinnen. Nur der Schädel ſcheint mir uralt und die kleinen wimmelnden
21*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0339"n="323"/><cit><quote><lgtype="poem"><l>„O Weltgeiſt, was haſt du ge¬<lb/><hirendition="#et">trieben!</hi><lb/></l><l>So grade zu bauen, ſo toll zu ver¬<lb/><hirendition="#et">ſchieben!</hi><lb/></l><l>In deinem weiten Königtum<lb/></l><l>Wird alles ſchief, wird alles krumm,<lb/></l><l>Wo nicht Menſchen denken und<lb/><hirendition="#et">lieben.“</hi><lb/></l></lg></quote><biblrendition="#et">Aus Viſchers „Auch Einer“.</bibl><lb/></cit><p><hirendition="#in">I</hi>n meines Vaters Hauſe am ſchönen Rhein ſtand auf<lb/>
einem alten verſtaubten Bücherregal in einem halb verſchollenen<lb/>
Hauswinkel ein alter gelber Menſchenſchädel.</p><lb/><p>Er war vor Zeiten in der Nähe römiſcher Terrakotten<lb/>
gefunden worden und galt dem guten Glauben als Römer¬<lb/>ſchädel. Generationen lebensfroher Dienſtmädchen hatten ſich<lb/>
gefürchtet, ihn zur Reinigung je herab zu nehmen. Und ſo<lb/>
war er freies Reich für eine ebenſo lange Geſchlechterfolge<lb/>
grauer Achtbeiner geworden, die aus dem finſteren Winkel¬<lb/>
grunde dahinter herausgekrochen kamen und in den Schädel<lb/>
ihre Neſter bauten. Über die alten ſtarren Augenhöhlen bauten<lb/>ſie neue, zarte, watteweiche Lider und dahinter hatten ſie<lb/>
Brautbett und Kinderwiege.</p><lb/><p>Wenn ich an Spinnen denke, ſo ſehe ich dies luſtige<lb/>
Spinnenwirtshaus „Zum Totenſchädel“ wieder vor mir. Ich<lb/>
bin ein Kind und weiß noch nichts von Liebe. Weder von<lb/>
der Liebe der Menſchen, noch von der der Spinnen. Nur<lb/>
der Schädel ſcheint mir uralt und die kleinen wimmelnden<lb/><fwplace="bottom"type="sig">21*<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[323/0339]
„O Weltgeiſt, was haſt du ge¬
trieben!
So grade zu bauen, ſo toll zu ver¬
ſchieben!
In deinem weiten Königtum
Wird alles ſchief, wird alles krumm,
Wo nicht Menſchen denken und
lieben.“
Aus Viſchers „Auch Einer“.
In meines Vaters Hauſe am ſchönen Rhein ſtand auf
einem alten verſtaubten Bücherregal in einem halb verſchollenen
Hauswinkel ein alter gelber Menſchenſchädel.
Er war vor Zeiten in der Nähe römiſcher Terrakotten
gefunden worden und galt dem guten Glauben als Römer¬
ſchädel. Generationen lebensfroher Dienſtmädchen hatten ſich
gefürchtet, ihn zur Reinigung je herab zu nehmen. Und ſo
war er freies Reich für eine ebenſo lange Geſchlechterfolge
grauer Achtbeiner geworden, die aus dem finſteren Winkel¬
grunde dahinter herausgekrochen kamen und in den Schädel
ihre Neſter bauten. Über die alten ſtarren Augenhöhlen bauten
ſie neue, zarte, watteweiche Lider und dahinter hatten ſie
Brautbett und Kinderwiege.
Wenn ich an Spinnen denke, ſo ſehe ich dies luſtige
Spinnenwirtshaus „Zum Totenſchädel“ wieder vor mir. Ich
bin ein Kind und weiß noch nichts von Liebe. Weder von
der Liebe der Menſchen, noch von der der Spinnen. Nur
der Schädel ſcheint mir uralt und die kleinen wimmelnden
21*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/339>, abgerufen am 27.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.