wieder in den Naturzustand, in die Barbarei zurück, wo die Thaten der Atreus und Thyestes möglich sind."
Sie schauderte, vor sich niederblickend. Hatte er zu viel gesagt?
"Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht sagen, aber Ihr Geist, Adelheid, ist stark. Sie selbst haben, so jung noch, Prüfungen zu überstehen gehabt, Sie haben Blicke in die wüste Verworfenheit gethan. Ist z. B. eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um mit Anstand noch in der Gesellschaft weiter zu erscheinen, so viel besser, als jene rohen Barbaren, die ihrem Rache¬ trieb alles opferten! Und sind es die vielen hier, welche aus falscher Empfindsamkeit die entsetzliche That be¬ schönigten? Wissen Sie, weiß ich, welche Prüfungen auch meiner Freundin noch aufgespart sind, wie viele von denen, die Sie jetzt mit Aufmerksamkeiten über¬ häufen, die so liebenswürdig, edel, sprechen und zu handeln scheinen, Ihnen in einem ganz andern Lichte erscheinen werden!"
Adelheid sah ihn verwundert an. Er war in Gedanken vertieft. -- "Es war Unrecht von mir, rief er plötzlich auf. Die Vorsehung hat uns die schönen Illusionen als Pathengeschenk mitgegeben, damit wir Muth behalten. Sie selbst lüftet für jeden nur so viel von dem Schleier, als er ertragen kann. Und Niemand hat das Recht, dem andern die schirmende Decke fortzureißen. Vergebung! Kehren wir zur Iphi¬ genia zurück."
Er hielt die Hand zur Vergebung über den Tisch,
wieder in den Naturzuſtand, in die Barbarei zurück, wo die Thaten der Atreus und Thyeſtes möglich ſind.“
Sie ſchauderte, vor ſich niederblickend. Hatte er zu viel geſagt?
„Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht ſagen, aber Ihr Geiſt, Adelheid, iſt ſtark. Sie ſelbſt haben, ſo jung noch, Prüfungen zu überſtehen gehabt, Sie haben Blicke in die wüſte Verworfenheit gethan. Iſt z. B. eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um mit Anſtand noch in der Geſellſchaft weiter zu erſcheinen, ſo viel beſſer, als jene rohen Barbaren, die ihrem Rache¬ trieb alles opferten! Und ſind es die vielen hier, welche aus falſcher Empfindſamkeit die entſetzliche That be¬ ſchönigten? Wiſſen Sie, weiß ich, welche Prüfungen auch meiner Freundin noch aufgeſpart ſind, wie viele von denen, die Sie jetzt mit Aufmerkſamkeiten über¬ häufen, die ſo liebenswürdig, edel, ſprechen und zu handeln ſcheinen, Ihnen in einem ganz andern Lichte erſcheinen werden!“
Adelheid ſah ihn verwundert an. Er war in Gedanken vertieft. — „Es war Unrecht von mir, rief er plötzlich auf. Die Vorſehung hat uns die ſchönen Illuſionen als Pathengeſchenk mitgegeben, damit wir Muth behalten. Sie ſelbſt lüftet für jeden nur ſo viel von dem Schleier, als er ertragen kann. Und Niemand hat das Recht, dem andern die ſchirmende Decke fortzureißen. Vergebung! Kehren wir zur Iphi¬ genia zurück.“
Er hielt die Hand zur Vergebung über den Tiſch,
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wieder in den Naturzuſtand, in die Barbarei zurück,
wo die Thaten der Atreus und Thyeſtes möglich ſind.“
Sie ſchauderte, vor ſich niederblickend. Hatte er
zu viel geſagt?
„Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht
ſagen, aber Ihr Geiſt, Adelheid, iſt ſtark. Sie ſelbſt
haben, ſo jung noch, Prüfungen zu überſtehen gehabt,
Sie haben Blicke in die wüſte Verworfenheit gethan.
Iſt z. B. eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um
mit Anſtand noch in der Geſellſchaft weiter zu erſcheinen, ſo
viel beſſer, als jene rohen Barbaren, die ihrem Rache¬
trieb alles opferten! Und ſind es die vielen hier, welche
aus falſcher Empfindſamkeit die entſetzliche That be¬
ſchönigten? Wiſſen Sie, weiß ich, welche Prüfungen
auch meiner Freundin noch aufgeſpart ſind, wie viele
von denen, die Sie jetzt mit Aufmerkſamkeiten über¬
häufen, die ſo liebenswürdig, edel, ſprechen und zu
handeln ſcheinen, Ihnen in einem ganz andern Lichte
erſcheinen werden!“
Adelheid ſah ihn verwundert an. Er war in
Gedanken vertieft. — „Es war Unrecht von mir, rief
er plötzlich auf. Die Vorſehung hat uns die ſchönen
Illuſionen als Pathengeſchenk mitgegeben, damit wir
Muth behalten. Sie ſelbſt lüftet für jeden nur ſo
viel von dem Schleier, als er ertragen kann. Und
Niemand hat das Recht, dem andern die ſchirmende
Decke fortzureißen. Vergebung! Kehren wir zur Iphi¬
genia zurück.“
Er hielt die Hand zur Vergebung über den Tiſch,
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/230>, abgerufen am 05.05.2024.
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