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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

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auf immer vernichtet hatte, oder der unvergleichliche
Mime, der heute den Lear und morgen den Kanne¬
gießer mit gleicher Virtuosität spielte? Iffland drückte
Kotzebue zu Boden. Alle Lippen bebten vom Lobe
des Mimen; man anatomisirte den kleinen Finger
seiner linken Hand, mit dem er ein widerstrebendes
Gefühl ausgedrückt, man zerschnitt seine carrirte Weste,
welche die Zersetzung eines sublimen Gedankens in
eben so viel Theile darlegte. "Und Fleck ist doch
größer!" trumpfte ein stabiler Gast auf den Tisch.
-- Warum, Renommist? "Er schafft, Iffland co¬
pirt." -- Kunst und Natur, ein ewiger Streit, man
überschrie sich; die Gläser klirrten, die Köpfe wurden
heiß. "Und alle Eure Kunst ist doch nur Chemie, schrie der
Renommist. Die Pest auf Dichter, die nur die Schädel¬
lehre zersetzen, aber keinen Schädel lebendig machen."

Er setzte sich von den Genialen zu den Phi¬
listern; doch es waren Philister des Fortschritts. Die
Emdener Heringsfischerei hatte zum ersten Mal Di¬
videnden ausgetheilt. Und die Chaussee von Pots¬
dam nach Brandenburg war ehegestern fertig geworden.
"Meine Herren, das erwägen Sie, man kann von
nun an in neun, ja vielleicht künftig in sieben Stun¬
den von Berlin nach Brandenburg fahren! Und wie
lange ist es her, wo wir einen Tag brauchten durch
den Sand, um nur nach Potsdam zu kommen! Das
war ja schon ein ungeheures Evenement. Wenn
das der alte Fritz erlebt hätte! Bis Potsdam wie
auf einer Diele! Und das hat unsre Regierung ge¬

auf immer vernichtet hatte, oder der unvergleichliche
Mime, der heute den Lear und morgen den Kanne¬
gießer mit gleicher Virtuoſität ſpielte? Iffland drückte
Kotzebue zu Boden. Alle Lippen bebten vom Lobe
des Mimen; man anatomiſirte den kleinen Finger
ſeiner linken Hand, mit dem er ein widerſtrebendes
Gefühl ausgedrückt, man zerſchnitt ſeine carrirte Weſte,
welche die Zerſetzung eines ſublimen Gedankens in
eben ſo viel Theile darlegte. „Und Fleck iſt doch
größer!“ trumpfte ein ſtabiler Gaſt auf den Tiſch.
— Warum, Renommiſt? „Er ſchafft, Iffland co¬
pirt.“ — Kunſt und Natur, ein ewiger Streit, man
überſchrie ſich; die Gläſer klirrten, die Köpfe wurden
heiß. „Und alle Eure Kunſt iſt doch nur Chemie, ſchrie der
Renommiſt. Die Peſt auf Dichter, die nur die Schädel¬
lehre zerſetzen, aber keinen Schädel lebendig machen.“

Er ſetzte ſich von den Genialen zu den Phi¬
liſtern; doch es waren Philiſter des Fortſchritts. Die
Emdener Heringsfiſcherei hatte zum erſten Mal Di¬
videnden ausgetheilt. Und die Chauſſee von Pots¬
dam nach Brandenburg war ehegeſtern fertig geworden.
„Meine Herren, das erwägen Sie, man kann von
nun an in neun, ja vielleicht künftig in ſieben Stun¬
den von Berlin nach Brandenburg fahren! Und wie
lange iſt es her, wo wir einen Tag brauchten durch
den Sand, um nur nach Potsdam zu kommen! Das
war ja ſchon ein ungeheures Evenement. Wenn
das der alte Fritz erlebt hätte! Bis Potsdam wie
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[316/0326] auf immer vernichtet hatte, oder der unvergleichliche Mime, der heute den Lear und morgen den Kanne¬ gießer mit gleicher Virtuoſität ſpielte? Iffland drückte Kotzebue zu Boden. Alle Lippen bebten vom Lobe des Mimen; man anatomiſirte den kleinen Finger ſeiner linken Hand, mit dem er ein widerſtrebendes Gefühl ausgedrückt, man zerſchnitt ſeine carrirte Weſte, welche die Zerſetzung eines ſublimen Gedankens in eben ſo viel Theile darlegte. „Und Fleck iſt doch größer!“ trumpfte ein ſtabiler Gaſt auf den Tiſch. — Warum, Renommiſt? „Er ſchafft, Iffland co¬ pirt.“ — Kunſt und Natur, ein ewiger Streit, man überſchrie ſich; die Gläſer klirrten, die Köpfe wurden heiß. „Und alle Eure Kunſt iſt doch nur Chemie, ſchrie der Renommiſt. Die Peſt auf Dichter, die nur die Schädel¬ lehre zerſetzen, aber keinen Schädel lebendig machen.“ Er ſetzte ſich von den Genialen zu den Phi¬ liſtern; doch es waren Philiſter des Fortſchritts. Die Emdener Heringsfiſcherei hatte zum erſten Mal Di¬ videnden ausgetheilt. Und die Chauſſee von Pots¬ dam nach Brandenburg war ehegeſtern fertig geworden. „Meine Herren, das erwägen Sie, man kann von nun an in neun, ja vielleicht künftig in ſieben Stun¬ den von Berlin nach Brandenburg fahren! Und wie lange iſt es her, wo wir einen Tag brauchten durch den Sand, um nur nach Potsdam zu kommen! Das war ja ſchon ein ungeheures Evenement. Wenn das der alte Fritz erlebt hätte! Bis Potsdam wie auf einer Diele! Und das hat unſre Regierung ge¬

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/326>, abgerufen am 30.04.2024.