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Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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deren fabelhafte Gestalten die vorweltliche Mythe, ausgeschmückt von dem Schönheitssinn hochgebildeter Völker, die Geschichte des Heroenalters der Menschheit geknüpft. Was sprach dagegen zu ihm der Tag, der ein eiskaltes Sterbekleid über die Schöpfung ausbreitete; und wäre die Sonne so mächtig gewesen, die Schneedecke fortzuziehen, es lag doch nur eine ausgestorbene Welt darunter. Wie augenblendend die Sonne auf die Felder strahlte, es war doch nur ein matter höhnender Schimmer; selbst der einzelne Raubvogel, der Nahrung suchend über die weißen Flächen dahinflatterte, dünkte ihm des kühnen Fluges, des rauschenden Fittichwurfs, des zornigen Blicks eines Alpenadlers zu entbehren.

Sacken saß fest verschlossen im Wagen, als ein Sturm ihn aus seinen Träumen weckte. Der Orkan, der schneidend durch das Leder drang, wälzte Schneemassen heran. Er schwieg, oder rollte über die unermeßlichen sibirischen Ebenen fern gen Abend. Der Himmel war verdunkelt. Anfangs glich es einer Erleichterung, einer wohlthätigen Lösung der Natur nach einer entsetzlichen Beängstigung. Aber die Wolken schüttelten nicht allmählich ihre Fülle aus. Dick zusammengepeitscht, borsten sie auf einmal, die Atmosphäre war ein Schnee, er fiel nicht mehr, er wälzte, preßte sich herab. Bis über die Leiber ging er den Pferden, bis über die Räder wuchs er am Wagen. Das Fuhrwerk blieb stehen, denn kein Peitschen und Fluchen half mehr. Nach einer bangen halben Stunde hörte er seine Wächter

deren fabelhafte Gestalten die vorweltliche Mythe, ausgeschmückt von dem Schönheitssinn hochgebildeter Völker, die Geschichte des Heroenalters der Menschheit geknüpft. Was sprach dagegen zu ihm der Tag, der ein eiskaltes Sterbekleid über die Schöpfung ausbreitete; und wäre die Sonne so mächtig gewesen, die Schneedecke fortzuziehen, es lag doch nur eine ausgestorbene Welt darunter. Wie augenblendend die Sonne auf die Felder strahlte, es war doch nur ein matter höhnender Schimmer; selbst der einzelne Raubvogel, der Nahrung suchend über die weißen Flächen dahinflatterte, dünkte ihm des kühnen Fluges, des rauschenden Fittichwurfs, des zornigen Blicks eines Alpenadlers zu entbehren.

Sacken saß fest verschlossen im Wagen, als ein Sturm ihn aus seinen Träumen weckte. Der Orkan, der schneidend durch das Leder drang, wälzte Schneemassen heran. Er schwieg, oder rollte über die unermeßlichen sibirischen Ebenen fern gen Abend. Der Himmel war verdunkelt. Anfangs glich es einer Erleichterung, einer wohlthätigen Lösung der Natur nach einer entsetzlichen Beängstigung. Aber die Wolken schüttelten nicht allmählich ihre Fülle aus. Dick zusammengepeitscht, borsten sie auf einmal, die Atmosphäre war ein Schnee, er fiel nicht mehr, er wälzte, preßte sich herab. Bis über die Leiber ging er den Pferden, bis über die Räder wuchs er am Wagen. Das Fuhrwerk blieb stehen, denn kein Peitschen und Fluchen half mehr. Nach einer bangen halben Stunde hörte er seine Wächter

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_sacken_1910/95>, abgerufen am 29.04.2024.