Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

-- Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man, wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden. Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche

— Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man, wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden. Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="7">
        <pb facs="#f0099"/>
        <p>&#x2014; Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über                sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine                Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er                nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger                Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die                Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber                er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man,                wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort                seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich                mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er                zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward                er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das                Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er                Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum                hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe                untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die                Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden.                Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] — Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man, wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden. Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T12:11:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T12:11:53Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_sacken_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_sacken_1910/99
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_sacken_1910/99>, abgerufen am 28.04.2024.