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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

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erschließenden Naturgesetze: Wie unter den Planeten der Stär-
kere sich zum Herrn des Schwächeren macht und diesen zwingt,
um ihn herumzulaufen -- er selber läuft wieder um die Sonne --
so essen sich auch die den Erdball bewohnenden Naturwesen je
nach Rang und Stand, und zwar auch so, daß je immer die
Subalternen gegessen werden, -- bis zum Menschen herauf, der
sie so ziemlich alle ißt. Das gegessene Naturwesen wird auf
diese Weise immer einem höheren Organismus assimilirt, und
jedes Natur-Avancement wird somit durch das Essen vermit-
telt. Das Essen bezweckt also Aneignung von Stoffen aus der
Außenwelt zum Behuf der Perfection. Je höher das Wesen,
um so willkührlicher, mannichfaltiger, geschmackvoller kann es
essen. Das unvollkommene Thier, und so auch der menschliche
Säugling, assimilirt zunächst nur Flüssiges. Daß der Strauß
Steine frißt, spricht nicht für dessen größere Vervollkommnung.

Je unvollkommner eine Organisation ist, desto weniger
hat sie einen individualisirten Eßapparat, desto weniger ist sie
geschickt, das Nahrungsmittel vorher selbst vorzubereiten. Je
höher, je vielseitiger entwickelt eine Organisation, um so vielfa-
cherer und edlerer Nahrung ist sie bedürftig und fähig, und ko-
chen und braten kann blos der Mensch!

Mit welchem Hochgefühl kann der Mensch auf die Wesen
unter ihm herabschauen. Welche Beschränktheit, Einseitigkeit,
ja langweilige Einerleiheit der niederen Eßverhältnisse! So ist
der Seidenwurm auf den Maulbeerbaum, selbst das edle Roß
auf Heu und Haber beschränkt!

Daß bei den Pflanzen von keinem eigentlichen Essen die
Rede sein kann, wird sich aus dem Begriffe des Essens später
ergeben. Die Dionaea muscipula fängt zwar Mücken, weiß
sie aber nicht zu essen. Indessen scheint doch schon hier eine
Eßsehnsucht symbolisch angedeutet und vorgebildet. Wie aber
die Gelehrten noch darüber schwitzen, zu bestimmen, wo die
Pflanze zum Thier wird, wo die Grenzen des Pflanzen- und

erſchließenden Naturgeſetze: Wie unter den Planeten der Staͤr-
kere ſich zum Herrn des Schwaͤcheren macht und dieſen zwingt,
um ihn herumzulaufen — er ſelber laͤuft wieder um die Sonne —
ſo eſſen ſich auch die den Erdball bewohnenden Naturweſen je
nach Rang und Stand, und zwar auch ſo, daß je immer die
Subalternen gegeſſen werden, — bis zum Menſchen herauf, der
ſie ſo ziemlich alle ißt. Das gegeſſene Naturweſen wird auf
dieſe Weiſe immer einem hoͤheren Organismus aſſimilirt, und
jedes Natur-Avancement wird ſomit durch das Eſſen vermit-
telt. Das Eſſen bezweckt alſo Aneignung von Stoffen aus der
Außenwelt zum Behuf der Perfection. Je hoͤher das Weſen,
um ſo willkuͤhrlicher, mannichfaltiger, geſchmackvoller kann es
eſſen. Das unvollkommene Thier, und ſo auch der menſchliche
Saͤugling, aſſimilirt zunaͤchſt nur Fluͤſſiges. Daß der Strauß
Steine frißt, ſpricht nicht fuͤr deſſen groͤßere Vervollkommnung.

Je unvollkommner eine Organiſation iſt, deſto weniger
hat ſie einen individualiſirten Eßapparat, deſto weniger iſt ſie
geſchickt, das Nahrungsmittel vorher ſelbſt vorzubereiten. Je
hoͤher, je vielſeitiger entwickelt eine Organiſation, um ſo vielfa-
cherer und edlerer Nahrung iſt ſie beduͤrftig und faͤhig, und ko-
chen und braten kann blos der Menſch!

Mit welchem Hochgefuͤhl kann der Menſch auf die Weſen
unter ihm herabſchauen. Welche Beſchraͤnktheit, Einſeitigkeit,
ja langweilige Einerleiheit der niederen Eßverhaͤltniſſe! So iſt
der Seidenwurm auf den Maulbeerbaum, ſelbſt das edle Roß
auf Heu und Haber beſchraͤnkt!

Daß bei den Pflanzen von keinem eigentlichen Eſſen die
Rede ſein kann, wird ſich aus dem Begriffe des Eſſens ſpaͤter
ergeben. Die Dionaea muscipula faͤngt zwar Muͤcken, weiß
ſie aber nicht zu eſſen. Indeſſen ſcheint doch ſchon hier eine
Eßſehnſucht ſymboliſch angedeutet und vorgebildet. Wie aber
die Gelehrten noch daruͤber ſchwitzen, zu beſtimmen, wo die
Pflanze zum Thier wird, wo die Grenzen des Pflanzen- und

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[5/0019] erſchließenden Naturgeſetze: Wie unter den Planeten der Staͤr- kere ſich zum Herrn des Schwaͤcheren macht und dieſen zwingt, um ihn herumzulaufen — er ſelber laͤuft wieder um die Sonne — ſo eſſen ſich auch die den Erdball bewohnenden Naturweſen je nach Rang und Stand, und zwar auch ſo, daß je immer die Subalternen gegeſſen werden, — bis zum Menſchen herauf, der ſie ſo ziemlich alle ißt. Das gegeſſene Naturweſen wird auf dieſe Weiſe immer einem hoͤheren Organismus aſſimilirt, und jedes Natur-Avancement wird ſomit durch das Eſſen vermit- telt. Das Eſſen bezweckt alſo Aneignung von Stoffen aus der Außenwelt zum Behuf der Perfection. Je hoͤher das Weſen, um ſo willkuͤhrlicher, mannichfaltiger, geſchmackvoller kann es eſſen. Das unvollkommene Thier, und ſo auch der menſchliche Saͤugling, aſſimilirt zunaͤchſt nur Fluͤſſiges. Daß der Strauß Steine frißt, ſpricht nicht fuͤr deſſen groͤßere Vervollkommnung. Je unvollkommner eine Organiſation iſt, deſto weniger hat ſie einen individualiſirten Eßapparat, deſto weniger iſt ſie geſchickt, das Nahrungsmittel vorher ſelbſt vorzubereiten. Je hoͤher, je vielſeitiger entwickelt eine Organiſation, um ſo vielfa- cherer und edlerer Nahrung iſt ſie beduͤrftig und faͤhig, und ko- chen und braten kann blos der Menſch! Mit welchem Hochgefuͤhl kann der Menſch auf die Weſen unter ihm herabſchauen. Welche Beſchraͤnktheit, Einſeitigkeit, ja langweilige Einerleiheit der niederen Eßverhaͤltniſſe! So iſt der Seidenwurm auf den Maulbeerbaum, ſelbſt das edle Roß auf Heu und Haber beſchraͤnkt! Daß bei den Pflanzen von keinem eigentlichen Eſſen die Rede ſein kann, wird ſich aus dem Begriffe des Eſſens ſpaͤter ergeben. Die Dionaea muscipula faͤngt zwar Muͤcken, weiß ſie aber nicht zu eſſen. Indeſſen ſcheint doch ſchon hier eine Eßſehnſucht ſymboliſch angedeutet und vorgebildet. Wie aber die Gelehrten noch daruͤber ſchwitzen, zu beſtimmen, wo die Pflanze zum Thier wird, wo die Grenzen des Pflanzen- und

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Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/19>, abgerufen am 30.04.2024.