Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

sitzen auf meinem freien Sitz; am Morgen guckten sie
aus dem Wagen, da hatte ich mich in einen Schnee-
mann verwandelt, aber noch eh' sie recht erschrecken
konnten, warf ich den Mantel ab, unter dem ich
recht warm gesessen hatte. In Berlin war ich wie ein
Blinder unter vielen Menschen, und auch geistesabwe-
send war ich, an nichts konnt' ich Theil nehmen, ich
sehnte mich nur immer nach dem Dunkel, um von
nichts zerstreut zu sein, um an die Zukunft denken zu
können, die so nah gerückt war. Ach wie oft schlug es
da Allarm! -- plötzlich, unversehens, mitten in die stille
Ruhe, ich wußte nicht von was. Schneller als ich's
denken konnte, hatte mich ein süßer Schrecken erfaßt.
O Mutter, Mutter! denk' Sie an ihren Sohn, wenn
Sie wüßte, sie sollte ihn in kurzer Zeit sehen, sie wär'
auch wie ein Blitzableiter, in den alle Gewitter einschlü-
gen. -- Wie wir nur noch wenig Meilen von Weimar
waren, da sagte mein Schwager, er wünsche nicht den
Umweg über Weimar zu machen und lieber eine andre
Straße zu fahren. Ich schwieg stille, aber die Lullu
litt es nicht; sie sagte: "einmal wär' mir's versprochen
und er müßte mir Wort halten." -- Ach Mutter! --
das Schwert hing an einem Haar über meinem Haupt,
aber ich kam glücklich drunter weg.


ſitzen auf meinem freien Sitz; am Morgen guckten ſie
aus dem Wagen, da hatte ich mich in einen Schnee-
mann verwandelt, aber noch eh' ſie recht erſchrecken
konnten, warf ich den Mantel ab, unter dem ich
recht warm geſeſſen hatte. In Berlin war ich wie ein
Blinder unter vielen Menſchen, und auch geiſtesabwe-
ſend war ich, an nichts konnt' ich Theil nehmen, ich
ſehnte mich nur immer nach dem Dunkel, um von
nichts zerſtreut zu ſein, um an die Zukunft denken zu
können, die ſo nah gerückt war. Ach wie oft ſchlug es
da Allarm! — plötzlich, unverſehens, mitten in die ſtille
Ruhe, ich wußte nicht von was. Schneller als ich's
denken konnte, hatte mich ein ſüßer Schrecken erfaßt.
O Mutter, Mutter! denk' Sie an ihren Sohn, wenn
Sie wüßte, ſie ſollte ihn in kurzer Zeit ſehen, ſie wär'
auch wie ein Blitzableiter, in den alle Gewitter einſchlü-
gen. — Wie wir nur noch wenig Meilen von Weimar
waren, da ſagte mein Schwager, er wünſche nicht den
Umweg über Weimar zu machen und lieber eine andre
Straße zu fahren. Ich ſchwieg ſtille, aber die Lullu
litt es nicht; ſie ſagte: „einmal wär' mir's verſprochen
und er müßte mir Wort halten.“ — Ach Mutter! —
das Schwert hing an einem Haar über meinem Haupt,
aber ich kam glücklich drunter weg.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0039" n="7"/>
&#x017F;itzen auf meinem freien Sitz; am Morgen guckten &#x017F;ie<lb/>
aus dem Wagen, da hatte ich mich in einen Schnee-<lb/>
mann verwandelt, aber noch eh' &#x017F;ie recht er&#x017F;chrecken<lb/>
konnten, warf ich den Mantel ab, unter dem ich<lb/>
recht warm ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en hatte. In Berlin war ich wie ein<lb/>
Blinder unter vielen Men&#x017F;chen, und auch gei&#x017F;tesabwe-<lb/>
&#x017F;end war ich, an nichts konnt' ich Theil nehmen, ich<lb/>
&#x017F;ehnte mich nur immer nach dem Dunkel, um von<lb/>
nichts zer&#x017F;treut zu &#x017F;ein, um an die Zukunft denken zu<lb/>
können, die &#x017F;o nah gerückt war. Ach wie oft &#x017F;chlug es<lb/>
da Allarm! &#x2014; plötzlich, unver&#x017F;ehens, mitten in die &#x017F;tille<lb/>
Ruhe, ich wußte nicht von was. Schneller als ich's<lb/>
denken konnte, hatte mich ein &#x017F;üßer Schrecken erfaßt.<lb/>
O Mutter, Mutter! denk' Sie an ihren Sohn, wenn<lb/>
Sie wüßte, &#x017F;ie &#x017F;ollte ihn in kurzer Zeit &#x017F;ehen, &#x017F;ie wär'<lb/>
auch wie ein Blitzableiter, in den alle Gewitter ein&#x017F;chlü-<lb/>
gen. &#x2014; Wie wir nur noch wenig Meilen von Weimar<lb/>
waren, da &#x017F;agte mein Schwager, er wün&#x017F;che nicht den<lb/>
Umweg über Weimar zu machen und lieber eine andre<lb/>
Straße zu fahren. Ich &#x017F;chwieg &#x017F;tille, aber die Lullu<lb/>
litt es nicht; &#x017F;ie &#x017F;agte: &#x201E;einmal wär' mir's ver&#x017F;prochen<lb/>
und er müßte mir Wort halten.&#x201C; &#x2014; Ach Mutter! &#x2014;<lb/>
das Schwert hing an einem Haar über meinem Haupt,<lb/>
aber ich kam glücklich drunter weg.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0039] ſitzen auf meinem freien Sitz; am Morgen guckten ſie aus dem Wagen, da hatte ich mich in einen Schnee- mann verwandelt, aber noch eh' ſie recht erſchrecken konnten, warf ich den Mantel ab, unter dem ich recht warm geſeſſen hatte. In Berlin war ich wie ein Blinder unter vielen Menſchen, und auch geiſtesabwe- ſend war ich, an nichts konnt' ich Theil nehmen, ich ſehnte mich nur immer nach dem Dunkel, um von nichts zerſtreut zu ſein, um an die Zukunft denken zu können, die ſo nah gerückt war. Ach wie oft ſchlug es da Allarm! — plötzlich, unverſehens, mitten in die ſtille Ruhe, ich wußte nicht von was. Schneller als ich's denken konnte, hatte mich ein ſüßer Schrecken erfaßt. O Mutter, Mutter! denk' Sie an ihren Sohn, wenn Sie wüßte, ſie ſollte ihn in kurzer Zeit ſehen, ſie wär' auch wie ein Blitzableiter, in den alle Gewitter einſchlü- gen. — Wie wir nur noch wenig Meilen von Weimar waren, da ſagte mein Schwager, er wünſche nicht den Umweg über Weimar zu machen und lieber eine andre Straße zu fahren. Ich ſchwieg ſtille, aber die Lullu litt es nicht; ſie ſagte: „einmal wär' mir's verſprochen und er müßte mir Wort halten.“ — Ach Mutter! — das Schwert hing an einem Haar über meinem Haupt, aber ich kam glücklich drunter weg.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/39
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/39>, abgerufen am 30.04.2024.