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Allgemeine Zeitung. Nr. 15. Augsburg, 15. Januar 1840.

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Graf Speransky.

(Beschluß.)

Eben so unversehens, als das Exil über ihn verhängt worden war, wurde er nach vier Jahren wieder aus demselben in den Staatsdienst zurückberufen - doch nicht auf seine frühere Stelle in St. Petersburg. Obgleich der betreffende Ukas ihn von jedem Verdachte frei sprach und für völlig unschuldig erkannte, mochte doch die Rücksicht auf Consequenz in der höhern Staatsverwaltung dieß nicht für sofort zulässig erscheinen lassen. Speransky ward zum Gouverneur von Pensa ernannt. Hier erlernte Speransky in Zeit von drei Monaten die deutsche Sprache so vollkommen, daß er Klopstock und Schiller las und commentirte, und von dieser Zeit an ist er stets der deutschen Litteratur in ihren Hauptrichtungen gefolgt. Ueberhaupt waren Speransky's Sprachkenntnisse mehr als gewöhnlich. Außer seiner Muttersprache, zu deren Reform er beigetragen hat, und dem Deutschen, war er der lateinischen und französischen vollkommen Meister, mit dem Griechischen, Hebräischen und Englischen durchaus vertraut.

Schon im Jahr 1819 wurde er zum Generalgouverneur von Sibirien ernannt. Welch ein Schauspiel! Der Mann, der noch vor kurzem in einer der traurigsten Lagen schwebte, in welche ein Mensch gerathen kann, an die Dienstfertigkeit Anderer gewiesen, oft selbst der Nahrungsmittel beraubt, der Menge verdächtigt, in scheinbarer Hoffnungslosigkeit, nunmehr bekleidet mit einer beinahe unumschränkten Gewalt über einen halben Welttheil, erkoren zum Lenker des Schicksals einer weitläufigen Bevölkerung vieler Nationen, einer großen Anzahl seiner Leidensgefährten. Es schien, als habe ihn die Vorsehung eine besondere Schule durchlaufen lassen wollen, um ihn ganz für die große Aufgabe zu befähigen, welche jetzt vor ihm lag. Noch tief ergriffen von seinen eigenen Erfahrungen über das Loos eines Verbannten, wandte er Alles an, auch dasjenige der gerecht Verurtheilten gesetzlich geregelt und vor seitheriger Willkür sicher gestellt zu sehen: in zwei Jahren war eine neue Organisation des asiatischen Rußlands von ihm ausgegangen - eine Organisation, die noch in Kraft besteht und zum Wohle Sibiriens wohl noch lange bestehen wird. Ungeheure Reisen, welche er in dieser Zeit machte, im Ganzen 20,000 Werst, und zwar stets in der eigenthümlichen Reiseart jedes der besuchten Länder, welche Fahrten ihn bis nach Irkutsk, Nertschinsk und an die chinesische Gränze führten, boten ihm die Muße dar, sich auch hier mit den Wissenschaften zu beschäftigen.

Nach so wohl vollbrachtem Werke ward er im Jahr 1821 nach St. Petersburg zurückberufen und vom Kaiser Alexander mit allen Beweisen der Huld empfangen, zum Mitglied des Reichsraths und der Commission für Sibirien ernannt; doch blieb seine öffentliche Thätigkeit bis zum Tode dieses Kaisers auf laufende Geschäfte beschränkt.

Kaiser Nikolaus wußte einen solchen Mann vollkommen zu schätzen und berief ihn sogleich nach seiner Thronbesteigung wieder zu organischen Arbeiten. Es trat jetzt unter Speransky's Leitung wieder ein neues und entschiedener zum Endziele führendes Leben in die Arbeiten der Gesetzgebungscommission, welche durch den Ukas vom 31 Januar 1826 für eine zweite Section der kaiserlichen Cabinetskanzlei erklärt und zu wöchentlichen Rapporten über den Fortgang ihrer Arbeiten verpflichtet wurde. In ganz kurzer Zeit war jetzt eine vollständige Sammlung aller russischen Gesetze vom Jahr 1649 bis zum Todestage des Kaisers Alexander und dem ersten Manifeste des Kaisers Nikolaus vom 12/24 December 1825 geordnet, und wurde von dieser Gesetzgebungscommission als die erste officielle Gesetzessammlung von 1827 - 1830 in 48 Bänden Quart herausgegeben; 1833 erschien dann aus dieser Sammlung eine Zusammenstellung des jetzt noch gültigen russischen Rechts in 15 Bänden, des Corpus Juris Russici (Swod Sakonow), welches 42,198 gesetzliche Erlasse enthält. So wurde Speransky dem Kaiser Nikolaus, was Antiochus dem Theodosius II, was Tribonian dem Justinian gewesen.

In derselben Zeit leitete Speransky auch die Angelegenheiten der geistlichen Unterrichtsanstalten: die Waisen der Geistlichen wurden jetzt besser beaufsichtigt, sorgfältig erzogen und für die höchsten geistlichen Würden ausgebildet. Indem er die Veranstaltung traf, daß die in ungemein großer Anzahl von dem russischen Volke verbrauchten geweihten Kerzen künftig von den Kirchen selbst verkauft würden, der Ertrag aber den geistlichen Unterrichtsanstalten zufloß, hat er durch diesen einzigen glücklichen Gedanken, durch diese Benutzung einer religiösen Volkssitte für die höchsten Nationalzwecke, jenen Bildungsanstalten einen ungeheuern Fonds geschaffen, dessen wohlthätige Wirkungen künftige Generationen preisen werden. Damals unterrichtete er auch den Großfürsten Thronfolger in den Elementen der Rechtswissenschaft, und wußte dem Prinzen durch seine geistreiche Darstellung ein lebhaftes Interesse für diesen wichtigen Zweig seines künftigen Wirkungskreises einzuflößen.

Kaiser Nikolaus, der die edlen Organe seiner Wirksamkeit hochhält, erhob in Anerkennung solcher Verdienste im Anfang des Jahres 1839 Speransky in den Grafenstand - eine Ehre, deren er sich nicht lange erfreuen konnte, denn schon am 23 Februar rief ihn, kaum von einer schweren Krankheit genesen, nach erneutem kurzem Krankenlager der Tod ab. Er starb in der Mitte neuer wichtiger Arbeiten, man kann sagen, er fiel auf dem Felde der bürgerlichen Ehre.

Seine letzten Tage waren, wie sein ganzes Leben, voll Thätigkeit, ruhiger Klarheit, liebevoller Sorgfalt; er sah lächelnd dem Augenblick seiner Auflösung entgegen, in welcher er nur einen leichten Uebergang zu einem vollkommeneren Daseyn erblickte. Sein Leben hatte nahe an siebenzig Jahre gedauert und war voll Mühe und Arbeit.

Als wenige Tage später sein feierlicher Leichenzug demselben Alexander-Newsky Kloster, das ihn zuerst in St. Petersburg aufgenommen hatte, entgegenzog, als sein müder Körper unter vergoldetem Baldachin durch dasselbe Thor getragen wurde, das er vor einem halben Jahrhundert als ein armer, unbekannter, schutzloser Jüngling betreten hatte, ausgerüstet allein mit seinen Talenten und einem edlen Selbstvertrauen - wer wurde da nicht tief ergriffen von dem Hingang eines solchen Mannes!

Speransky war nicht nur ein gründlicher Gelehrter, ein großer Staatsmann, er war auch ein vortrefflicher Mensch. Bei aller Anspruchlosigkeit des Benehmens besaß er eine durch ein angenehmes Aeußere unterstützte, sehr anziehende Persönlichkeit; die freundliche Würde seines ganzen Wesens, eine seltene Rednergabe machten ihn schnell zum Mittelpunkte jedes Kreises, in welchem er erschien.

Die Milde seines Charakters, seine edle Selbstbeherrschung zeigten sich am schönsten während seiner Verbannung; in dieser

Graf Speransky.

(Beschluß.)

Eben so unversehens, als das Exil über ihn verhängt worden war, wurde er nach vier Jahren wieder aus demselben in den Staatsdienst zurückberufen – doch nicht auf seine frühere Stelle in St. Petersburg. Obgleich der betreffende Ukas ihn von jedem Verdachte frei sprach und für völlig unschuldig erkannte, mochte doch die Rücksicht auf Consequenz in der höhern Staatsverwaltung dieß nicht für sofort zulässig erscheinen lassen. Speransky ward zum Gouverneur von Pensa ernannt. Hier erlernte Speransky in Zeit von drei Monaten die deutsche Sprache so vollkommen, daß er Klopstock und Schiller las und commentirte, und von dieser Zeit an ist er stets der deutschen Litteratur in ihren Hauptrichtungen gefolgt. Ueberhaupt waren Speransky's Sprachkenntnisse mehr als gewöhnlich. Außer seiner Muttersprache, zu deren Reform er beigetragen hat, und dem Deutschen, war er der lateinischen und französischen vollkommen Meister, mit dem Griechischen, Hebräischen und Englischen durchaus vertraut.

Schon im Jahr 1819 wurde er zum Generalgouverneur von Sibirien ernannt. Welch ein Schauspiel! Der Mann, der noch vor kurzem in einer der traurigsten Lagen schwebte, in welche ein Mensch gerathen kann, an die Dienstfertigkeit Anderer gewiesen, oft selbst der Nahrungsmittel beraubt, der Menge verdächtigt, in scheinbarer Hoffnungslosigkeit, nunmehr bekleidet mit einer beinahe unumschränkten Gewalt über einen halben Welttheil, erkoren zum Lenker des Schicksals einer weitläufigen Bevölkerung vieler Nationen, einer großen Anzahl seiner Leidensgefährten. Es schien, als habe ihn die Vorsehung eine besondere Schule durchlaufen lassen wollen, um ihn ganz für die große Aufgabe zu befähigen, welche jetzt vor ihm lag. Noch tief ergriffen von seinen eigenen Erfahrungen über das Loos eines Verbannten, wandte er Alles an, auch dasjenige der gerecht Verurtheilten gesetzlich geregelt und vor seitheriger Willkür sicher gestellt zu sehen: in zwei Jahren war eine neue Organisation des asiatischen Rußlands von ihm ausgegangen – eine Organisation, die noch in Kraft besteht und zum Wohle Sibiriens wohl noch lange bestehen wird. Ungeheure Reisen, welche er in dieser Zeit machte, im Ganzen 20,000 Werst, und zwar stets in der eigenthümlichen Reiseart jedes der besuchten Länder, welche Fahrten ihn bis nach Irkutsk, Nertschinsk und an die chinesische Gränze führten, boten ihm die Muße dar, sich auch hier mit den Wissenschaften zu beschäftigen.

Nach so wohl vollbrachtem Werke ward er im Jahr 1821 nach St. Petersburg zurückberufen und vom Kaiser Alexander mit allen Beweisen der Huld empfangen, zum Mitglied des Reichsraths und der Commission für Sibirien ernannt; doch blieb seine öffentliche Thätigkeit bis zum Tode dieses Kaisers auf laufende Geschäfte beschränkt.

Kaiser Nikolaus wußte einen solchen Mann vollkommen zu schätzen und berief ihn sogleich nach seiner Thronbesteigung wieder zu organischen Arbeiten. Es trat jetzt unter Speransky's Leitung wieder ein neues und entschiedener zum Endziele führendes Leben in die Arbeiten der Gesetzgebungscommission, welche durch den Ukas vom 31 Januar 1826 für eine zweite Section der kaiserlichen Cabinetskanzlei erklärt und zu wöchentlichen Rapporten über den Fortgang ihrer Arbeiten verpflichtet wurde. In ganz kurzer Zeit war jetzt eine vollständige Sammlung aller russischen Gesetze vom Jahr 1649 bis zum Todestage des Kaisers Alexander und dem ersten Manifeste des Kaisers Nikolaus vom 12/24 December 1825 geordnet, und wurde von dieser Gesetzgebungscommission als die erste officielle Gesetzessammlung von 1827 – 1830 in 48 Bänden Quart herausgegeben; 1833 erschien dann aus dieser Sammlung eine Zusammenstellung des jetzt noch gültigen russischen Rechts in 15 Bänden, des Corpus Juris Russici (Swod Sakonow), welches 42,198 gesetzliche Erlasse enthält. So wurde Speransky dem Kaiser Nikolaus, was Antiochus dem Theodosius II, was Tribonian dem Justinian gewesen.

In derselben Zeit leitete Speransky auch die Angelegenheiten der geistlichen Unterrichtsanstalten: die Waisen der Geistlichen wurden jetzt besser beaufsichtigt, sorgfältig erzogen und für die höchsten geistlichen Würden ausgebildet. Indem er die Veranstaltung traf, daß die in ungemein großer Anzahl von dem russischen Volke verbrauchten geweihten Kerzen künftig von den Kirchen selbst verkauft würden, der Ertrag aber den geistlichen Unterrichtsanstalten zufloß, hat er durch diesen einzigen glücklichen Gedanken, durch diese Benutzung einer religiösen Volkssitte für die höchsten Nationalzwecke, jenen Bildungsanstalten einen ungeheuern Fonds geschaffen, dessen wohlthätige Wirkungen künftige Generationen preisen werden. Damals unterrichtete er auch den Großfürsten Thronfolger in den Elementen der Rechtswissenschaft, und wußte dem Prinzen durch seine geistreiche Darstellung ein lebhaftes Interesse für diesen wichtigen Zweig seines künftigen Wirkungskreises einzuflößen.

Kaiser Nikolaus, der die edlen Organe seiner Wirksamkeit hochhält, erhob in Anerkennung solcher Verdienste im Anfang des Jahres 1839 Speransky in den Grafenstand – eine Ehre, deren er sich nicht lange erfreuen konnte, denn schon am 23 Februar rief ihn, kaum von einer schweren Krankheit genesen, nach erneutem kurzem Krankenlager der Tod ab. Er starb in der Mitte neuer wichtiger Arbeiten, man kann sagen, er fiel auf dem Felde der bürgerlichen Ehre.

Seine letzten Tage waren, wie sein ganzes Leben, voll Thätigkeit, ruhiger Klarheit, liebevoller Sorgfalt; er sah lächelnd dem Augenblick seiner Auflösung entgegen, in welcher er nur einen leichten Uebergang zu einem vollkommeneren Daseyn erblickte. Sein Leben hatte nahe an siebenzig Jahre gedauert und war voll Mühe und Arbeit.

Als wenige Tage später sein feierlicher Leichenzug demselben Alexander-Newsky Kloster, das ihn zuerst in St. Petersburg aufgenommen hatte, entgegenzog, als sein müder Körper unter vergoldetem Baldachin durch dasselbe Thor getragen wurde, das er vor einem halben Jahrhundert als ein armer, unbekannter, schutzloser Jüngling betreten hatte, ausgerüstet allein mit seinen Talenten und einem edlen Selbstvertrauen – wer wurde da nicht tief ergriffen von dem Hingang eines solchen Mannes!

Speransky war nicht nur ein gründlicher Gelehrter, ein großer Staatsmann, er war auch ein vortrefflicher Mensch. Bei aller Anspruchlosigkeit des Benehmens besaß er eine durch ein angenehmes Aeußere unterstützte, sehr anziehende Persönlichkeit; die freundliche Würde seines ganzen Wesens, eine seltene Rednergabe machten ihn schnell zum Mittelpunkte jedes Kreises, in welchem er erschien.

Die Milde seines Charakters, seine edle Selbstbeherrschung zeigten sich am schönsten während seiner Verbannung; in dieser

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[0113/0009] Graf Speransky. (Beschluß.) Eben so unversehens, als das Exil über ihn verhängt worden war, wurde er nach vier Jahren wieder aus demselben in den Staatsdienst zurückberufen – doch nicht auf seine frühere Stelle in St. Petersburg. Obgleich der betreffende Ukas ihn von jedem Verdachte frei sprach und für völlig unschuldig erkannte, mochte doch die Rücksicht auf Consequenz in der höhern Staatsverwaltung dieß nicht für sofort zulässig erscheinen lassen. Speransky ward zum Gouverneur von Pensa ernannt. Hier erlernte Speransky in Zeit von drei Monaten die deutsche Sprache so vollkommen, daß er Klopstock und Schiller las und commentirte, und von dieser Zeit an ist er stets der deutschen Litteratur in ihren Hauptrichtungen gefolgt. Ueberhaupt waren Speransky's Sprachkenntnisse mehr als gewöhnlich. Außer seiner Muttersprache, zu deren Reform er beigetragen hat, und dem Deutschen, war er der lateinischen und französischen vollkommen Meister, mit dem Griechischen, Hebräischen und Englischen durchaus vertraut. Schon im Jahr 1819 wurde er zum Generalgouverneur von Sibirien ernannt. Welch ein Schauspiel! Der Mann, der noch vor kurzem in einer der traurigsten Lagen schwebte, in welche ein Mensch gerathen kann, an die Dienstfertigkeit Anderer gewiesen, oft selbst der Nahrungsmittel beraubt, der Menge verdächtigt, in scheinbarer Hoffnungslosigkeit, nunmehr bekleidet mit einer beinahe unumschränkten Gewalt über einen halben Welttheil, erkoren zum Lenker des Schicksals einer weitläufigen Bevölkerung vieler Nationen, einer großen Anzahl seiner Leidensgefährten. Es schien, als habe ihn die Vorsehung eine besondere Schule durchlaufen lassen wollen, um ihn ganz für die große Aufgabe zu befähigen, welche jetzt vor ihm lag. Noch tief ergriffen von seinen eigenen Erfahrungen über das Loos eines Verbannten, wandte er Alles an, auch dasjenige der gerecht Verurtheilten gesetzlich geregelt und vor seitheriger Willkür sicher gestellt zu sehen: in zwei Jahren war eine neue Organisation des asiatischen Rußlands von ihm ausgegangen – eine Organisation, die noch in Kraft besteht und zum Wohle Sibiriens wohl noch lange bestehen wird. Ungeheure Reisen, welche er in dieser Zeit machte, im Ganzen 20,000 Werst, und zwar stets in der eigenthümlichen Reiseart jedes der besuchten Länder, welche Fahrten ihn bis nach Irkutsk, Nertschinsk und an die chinesische Gränze führten, boten ihm die Muße dar, sich auch hier mit den Wissenschaften zu beschäftigen. Nach so wohl vollbrachtem Werke ward er im Jahr 1821 nach St. Petersburg zurückberufen und vom Kaiser Alexander mit allen Beweisen der Huld empfangen, zum Mitglied des Reichsraths und der Commission für Sibirien ernannt; doch blieb seine öffentliche Thätigkeit bis zum Tode dieses Kaisers auf laufende Geschäfte beschränkt. Kaiser Nikolaus wußte einen solchen Mann vollkommen zu schätzen und berief ihn sogleich nach seiner Thronbesteigung wieder zu organischen Arbeiten. Es trat jetzt unter Speransky's Leitung wieder ein neues und entschiedener zum Endziele führendes Leben in die Arbeiten der Gesetzgebungscommission, welche durch den Ukas vom 31 Januar 1826 für eine zweite Section der kaiserlichen Cabinetskanzlei erklärt und zu wöchentlichen Rapporten über den Fortgang ihrer Arbeiten verpflichtet wurde. In ganz kurzer Zeit war jetzt eine vollständige Sammlung aller russischen Gesetze vom Jahr 1649 bis zum Todestage des Kaisers Alexander und dem ersten Manifeste des Kaisers Nikolaus vom 12/24 December 1825 geordnet, und wurde von dieser Gesetzgebungscommission als die erste officielle Gesetzessammlung von 1827 – 1830 in 48 Bänden Quart herausgegeben; 1833 erschien dann aus dieser Sammlung eine Zusammenstellung des jetzt noch gültigen russischen Rechts in 15 Bänden, des Corpus Juris Russici (Swod Sakonow), welches 42,198 gesetzliche Erlasse enthält. So wurde Speransky dem Kaiser Nikolaus, was Antiochus dem Theodosius II, was Tribonian dem Justinian gewesen. In derselben Zeit leitete Speransky auch die Angelegenheiten der geistlichen Unterrichtsanstalten: die Waisen der Geistlichen wurden jetzt besser beaufsichtigt, sorgfältig erzogen und für die höchsten geistlichen Würden ausgebildet. Indem er die Veranstaltung traf, daß die in ungemein großer Anzahl von dem russischen Volke verbrauchten geweihten Kerzen künftig von den Kirchen selbst verkauft würden, der Ertrag aber den geistlichen Unterrichtsanstalten zufloß, hat er durch diesen einzigen glücklichen Gedanken, durch diese Benutzung einer religiösen Volkssitte für die höchsten Nationalzwecke, jenen Bildungsanstalten einen ungeheuern Fonds geschaffen, dessen wohlthätige Wirkungen künftige Generationen preisen werden. Damals unterrichtete er auch den Großfürsten Thronfolger in den Elementen der Rechtswissenschaft, und wußte dem Prinzen durch seine geistreiche Darstellung ein lebhaftes Interesse für diesen wichtigen Zweig seines künftigen Wirkungskreises einzuflößen. Kaiser Nikolaus, der die edlen Organe seiner Wirksamkeit hochhält, erhob in Anerkennung solcher Verdienste im Anfang des Jahres 1839 Speransky in den Grafenstand – eine Ehre, deren er sich nicht lange erfreuen konnte, denn schon am 23 Februar rief ihn, kaum von einer schweren Krankheit genesen, nach erneutem kurzem Krankenlager der Tod ab. Er starb in der Mitte neuer wichtiger Arbeiten, man kann sagen, er fiel auf dem Felde der bürgerlichen Ehre. Seine letzten Tage waren, wie sein ganzes Leben, voll Thätigkeit, ruhiger Klarheit, liebevoller Sorgfalt; er sah lächelnd dem Augenblick seiner Auflösung entgegen, in welcher er nur einen leichten Uebergang zu einem vollkommeneren Daseyn erblickte. Sein Leben hatte nahe an siebenzig Jahre gedauert und war voll Mühe und Arbeit. Als wenige Tage später sein feierlicher Leichenzug demselben Alexander-Newsky Kloster, das ihn zuerst in St. Petersburg aufgenommen hatte, entgegenzog, als sein müder Körper unter vergoldetem Baldachin durch dasselbe Thor getragen wurde, das er vor einem halben Jahrhundert als ein armer, unbekannter, schutzloser Jüngling betreten hatte, ausgerüstet allein mit seinen Talenten und einem edlen Selbstvertrauen – wer wurde da nicht tief ergriffen von dem Hingang eines solchen Mannes! Speransky war nicht nur ein gründlicher Gelehrter, ein großer Staatsmann, er war auch ein vortrefflicher Mensch. Bei aller Anspruchlosigkeit des Benehmens besaß er eine durch ein angenehmes Aeußere unterstützte, sehr anziehende Persönlichkeit; die freundliche Würde seines ganzen Wesens, eine seltene Rednergabe machten ihn schnell zum Mittelpunkte jedes Kreises, in welchem er erschien. Die Milde seines Charakters, seine edle Selbstbeherrschung zeigten sich am schönsten während seiner Verbannung; in dieser

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 15. Augsburg, 15. Januar 1840, S. 0113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_015_18400115/9>, abgerufen am 27.04.2024.