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Allgemeine Zeitung. Nr. 166. Augsburg, 14. Juni 1840.

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stark und lebenssaftig dastehen, mit klarem Sinn, sehnichten Armen und reichgefüllten Taschen, damit er schwache Nachbarn schirmen, Unkundigen politisch rathen, Dürftigen von seinem Ueberflusse mittheilen, überall aber für Ordnung und Sicherheit, für stilles und ehrsames Betragen wachen könne, besonders aber die deutschen Mittelstaaten vor aller Ungebühr der größern, so wie der Propaganda, Demokraten, Ideologen und Metaphysiker zu bewahren vermöge.

Geographisch, meint er, sey das Haus jetzt ausgebaut, und die Russen hätten nichts mehr zu thun, als ruhig darin zu wohnen, die Wirthschaft zu besorgen und Hochzeit zu halten, damit sich die leeren Räume füllen, es überall wimmle und gähre und bei künftiger Arbeit nirgend an Lebensbedarf, an Leuten, an Uebung und schicksamen Wesen gebreche. Und in der That, die Politik der beiden Imperatoren Alexander und Nikolaus zeigt klar genug, daß der Pentarchist, wenigstens was Europa betrifft, die volle Wahrheit sagt. Seit Karl XII und Napoleon I hält man das russische Land für unangreifbar, und seine Bevölkerung wächst jedes Jahr um eine Million. In Folge dieses Anschwellens an Volk, sittlicher Kraft und Industrie wird es seine Kriege, wie es zum Theil schon jetzt geschieht, bald "ohne Pulver und Kugel" führen und Siege erringen ohne die Hand aufzuheben, wie der unbewaffnete Achilles vor Troja. "Allen entfiel der Muth, [fremdsprachliches Material - fehlt]," als mitten im Schlachtgetümmel der fürchterliche Ruf vom Mauerwall erschallte. - Sonderbar, wenn die Welt ihren Frieden den Moskowiten verdanken müßte! - Diplomatische Feldzüge, Uebergriffe und Bedrückungen ärgern und demüthigen wohl die Fürsten, lassen aber die Völker, deren Taschen bei solchem Spiel verschont bleiben, gewöhnlich ungerührt und frostig. Man beschwert sich vielleicht nicht mit Unrecht über die Meisterschaft der Russen im diplomatischen Intriguenspiel. Sie ermüden und erschöpfen, heißt es, durch endlose Unterhandlungen, im Labyrinthe inextricabler Wortmanöver, so wie durch Künste teuflischer Art zuletzt Geduld und Spannkraft aller Gegner, überlisten Freund und Feind, und zwingen die europäischen Cabinette durch Unruhen und Furcht auf Rußlands Neigung und Abneigung, wie auf die Veränderung der Magnetnadel, zu achten. Selbst die entfernt liegenden Staaten wüßten sie in fortwährender Gährung zu erhalten. Ist dieser Vorwurf gegründet, wie man es bei der schwachen Abwehr des Pentarchisten beinahe annehmen darf, so ist Rußlands Aufgabe, wie man sie seit Peter I versteht, ihrer Lösung nahe und ein allgemeines Prätorium ist constituirt, vor dem Völker und Fürsten zu Recht stehen. Nennt den russischen Imperator "Wladimir" oder "Dschehanghir," es wäre dann jedenfalls ein "Herr der Welt."

So viel ist entschieden, und der Pentarchist gesteht es indirect selbst ein, daß Rußlands geheime Macht über Europa und Asien nicht in furchtbaren Armeen, die über die russische Gränze kämen, sondern im gewandten und raschen Gebrauch weniger zertheilten Haufen, *) hauptsächlich aber in der genauen und persönlichen Kenntniß der sämmtlichen Staatselemente des Morgen- und Abendlandes liege. Wie kein anderer Staat hat Rußland die auswärtigen Verhältnisse nach allen Ursachen und Wirkungen hin durchforscht. Es kennt den politischen Werth oder Unwerth der einzelnen Notabilitäten fremder Reiche vollkommen richtig, und verschwendet deßwegen auch nie weder eine Drohung noch eine Belohnung umsonst. Der Russe berechnet das Maaß des Widerstandes, den der Nachbar zu leisten im Stande wäre, immer treffend, und gründet auf diese richtige Rechnung seinen politischen Principat. Beweist Stand und Gang der diplomatischen Verhandlungen in Sachen des Orients, vom Ausbruch der griechischen Insurrection bis auf die gegenwärtige Stunde, nicht unwiderleglich die Wahrheit vorstehender Charakteristik? Wollt ihr aber die Russen tadeln, daß sie sich durch eigenthümliches Cohäsionsvermögen in fremden Ländern Sympathien schaffen, weder Geld noch kluge Reden, weder politische noch kirchliche Mittel sparen, und durch Gewandtheit oft selbst ihre Neider und Gegner, wie bei Navarin, ihren Zwecken dienstbar machen, so thut es ihnen nach, bekämpft sie mit denselben Waffen, habt auch Talent, seyd auch klug, listig, glatt, verschlagen und Eines Sinnes, säet Gold zur rechten Zeit, gönnt euch keine Rast, seyd gottesfürchtig, singet Litaneien, und fastet sieben Monate im Jahre, zimmert Flotten und recrutirt die Heere und sterbt für euern Glauben und euer Vaterland mit derselben Hingebung, wie die Russen, und ihr werdet dieselben Erfolge haben, die ihr jetzt an den Nachbarn so ungern seht und mit solcher Bitterkeit verdammt Die Herrschaft hat allzeit dem Klugen, dem Standhaften, dem Starken und Thätigen gehört. Vergleicht man aber auf der andern Seite Summe und Art des Widerstandes gegen russische Suprematie, und bedenkt man, wie bisher alles Abmühen der westlichen Höfe, das Anschwellen der Weltlawine zu hemmen, ohne Frucht geblieben ist, und es auf allen Seiten bald an Kraft, bald an Muth, allzeit und überall aber an Geschick und Einsicht fehlt, so glaubt man zuletzt, ein Staatsmann des Alterthums habe mit prophetischem Sinn vorhergesagt, wenn einmal alle Scythen von einer gemeinsamen Idee begeistert seyen, könne ihnen weder in Europa noch in Asien Jemand widerstehen. **) Diese gemeinsame Idee ist aber in unsern Tagen lebendig geworden.

Cato sagte von den Großen seiner Zeit, Cäsar allein habe gewußt, was er wolle, und sey nüchtern ad evertendam rempublicam accessisse. Mancher wäre versucht, diesen Spruch auf das nun in die zwanzig Jahre sich fortschleppende Interveniren der Europäer in die türkisch-griechischen Angelegenheiten zu beziehen. Wie abweichend Russen und Deutsche die res humanas beurtheilen, wie nüchtern und tactfest die einen, wie candid und kindlich-einfältig die andern eingreifen, hat sich am auffallendsten bei der griechischen Revolution gezeigt. Wer z. B. rechnet heute noch auf Verwirklichung der hellenischen Träume, welche damals die Einbildung des Occidents erhitzten und zu den abenteuerlichsten Projecten und Hoffnungen trieben? Ist der Bankerutt nicht vollständig, und fällt der blinde Enthusiast nicht nothwendig zuletzt dem Nüchternen als Beute in die Hand? Während wir glühten, schwärmten und uns besteuerten, blieb der Moskowit kalt und berechnete ruhig, welcher Gewinn für die orthodoxe Kirche und russisches Uebergewicht im Orient aus den hellenischen Verzuckungen der Westländer zu ziehen sey. Man merkte uns schnell ab, daß sich bei Nennung des Worts "Hellene" nicht nur unser Herz, sondern auch unsere Truhen und Casernen öffnen. Schnell ordnet der Moskowit sein Spiel als Mitgenosse, und nimmt, uns zu Gefallen, das Zauberwort in den Mund, ohne deßwegen unsern Begriff damit zu verbinden. Was denkt sich der Russe unter Hellenen? Unter Hellenen denken sich die Russen Leute, die zu Schiff nach Taganrok und Odessa kommen, mit Sardellen und Caviar handeln, den römischen Papst verabscheuen, ihr Vertrauen

*) Nie sind mehr als 50,000 Russen über die Donau gegangen. Und ist nicht 1813 Kutusow mit 45,000 Mann in Schlesien erschienen?
**) [fremdsprachliches Material - fehlt]
Thucyd. II, 97.

stark und lebenssaftig dastehen, mit klarem Sinn, sehnichten Armen und reichgefüllten Taschen, damit er schwache Nachbarn schirmen, Unkundigen politisch rathen, Dürftigen von seinem Ueberflusse mittheilen, überall aber für Ordnung und Sicherheit, für stilles und ehrsames Betragen wachen könne, besonders aber die deutschen Mittelstaaten vor aller Ungebühr der größern, so wie der Propaganda, Demokraten, Ideologen und Metaphysiker zu bewahren vermöge.

Geographisch, meint er, sey das Haus jetzt ausgebaut, und die Russen hätten nichts mehr zu thun, als ruhig darin zu wohnen, die Wirthschaft zu besorgen und Hochzeit zu halten, damit sich die leeren Räume füllen, es überall wimmle und gähre und bei künftiger Arbeit nirgend an Lebensbedarf, an Leuten, an Uebung und schicksamen Wesen gebreche. Und in der That, die Politik der beiden Imperatoren Alexander und Nikolaus zeigt klar genug, daß der Pentarchist, wenigstens was Europa betrifft, die volle Wahrheit sagt. Seit Karl XII und Napoleon I hält man das russische Land für unangreifbar, und seine Bevölkerung wächst jedes Jahr um eine Million. In Folge dieses Anschwellens an Volk, sittlicher Kraft und Industrie wird es seine Kriege, wie es zum Theil schon jetzt geschieht, bald „ohne Pulver und Kugel“ führen und Siege erringen ohne die Hand aufzuheben, wie der unbewaffnete Achilles vor Troja. „Allen entfiel der Muth, [fremdsprachliches Material – fehlt],“ als mitten im Schlachtgetümmel der fürchterliche Ruf vom Mauerwall erschallte. – Sonderbar, wenn die Welt ihren Frieden den Moskowiten verdanken müßte! – Diplomatische Feldzüge, Uebergriffe und Bedrückungen ärgern und demüthigen wohl die Fürsten, lassen aber die Völker, deren Taschen bei solchem Spiel verschont bleiben, gewöhnlich ungerührt und frostig. Man beschwert sich vielleicht nicht mit Unrecht über die Meisterschaft der Russen im diplomatischen Intriguenspiel. Sie ermüden und erschöpfen, heißt es, durch endlose Unterhandlungen, im Labyrinthe inextricabler Wortmanöver, so wie durch Künste teuflischer Art zuletzt Geduld und Spannkraft aller Gegner, überlisten Freund und Feind, und zwingen die europäischen Cabinette durch Unruhen und Furcht auf Rußlands Neigung und Abneigung, wie auf die Veränderung der Magnetnadel, zu achten. Selbst die entfernt liegenden Staaten wüßten sie in fortwährender Gährung zu erhalten. Ist dieser Vorwurf gegründet, wie man es bei der schwachen Abwehr des Pentarchisten beinahe annehmen darf, so ist Rußlands Aufgabe, wie man sie seit Peter I versteht, ihrer Lösung nahe und ein allgemeines Prätorium ist constituirt, vor dem Völker und Fürsten zu Recht stehen. Nennt den russischen Imperator „Wladimir“ oder „Dschehanghir,“ es wäre dann jedenfalls ein „Herr der Welt.“

So viel ist entschieden, und der Pentarchist gesteht es indirect selbst ein, daß Rußlands geheime Macht über Europa und Asien nicht in furchtbaren Armeen, die über die russische Gränze kämen, sondern im gewandten und raschen Gebrauch weniger zertheilten Haufen, *) hauptsächlich aber in der genauen und persönlichen Kenntniß der sämmtlichen Staatselemente des Morgen- und Abendlandes liege. Wie kein anderer Staat hat Rußland die auswärtigen Verhältnisse nach allen Ursachen und Wirkungen hin durchforscht. Es kennt den politischen Werth oder Unwerth der einzelnen Notabilitäten fremder Reiche vollkommen richtig, und verschwendet deßwegen auch nie weder eine Drohung noch eine Belohnung umsonst. Der Russe berechnet das Maaß des Widerstandes, den der Nachbar zu leisten im Stande wäre, immer treffend, und gründet auf diese richtige Rechnung seinen politischen Principat. Beweist Stand und Gang der diplomatischen Verhandlungen in Sachen des Orients, vom Ausbruch der griechischen Insurrection bis auf die gegenwärtige Stunde, nicht unwiderleglich die Wahrheit vorstehender Charakteristik? Wollt ihr aber die Russen tadeln, daß sie sich durch eigenthümliches Cohäsionsvermögen in fremden Ländern Sympathien schaffen, weder Geld noch kluge Reden, weder politische noch kirchliche Mittel sparen, und durch Gewandtheit oft selbst ihre Neider und Gegner, wie bei Navarin, ihren Zwecken dienstbar machen, so thut es ihnen nach, bekämpft sie mit denselben Waffen, habt auch Talent, seyd auch klug, listig, glatt, verschlagen und Eines Sinnes, säet Gold zur rechten Zeit, gönnt euch keine Rast, seyd gottesfürchtig, singet Litaneien, und fastet sieben Monate im Jahre, zimmert Flotten und recrutirt die Heere und sterbt für euern Glauben und euer Vaterland mit derselben Hingebung, wie die Russen, und ihr werdet dieselben Erfolge haben, die ihr jetzt an den Nachbarn so ungern seht und mit solcher Bitterkeit verdammt Die Herrschaft hat allzeit dem Klugen, dem Standhaften, dem Starken und Thätigen gehört. Vergleicht man aber auf der andern Seite Summe und Art des Widerstandes gegen russische Suprematie, und bedenkt man, wie bisher alles Abmühen der westlichen Höfe, das Anschwellen der Weltlawine zu hemmen, ohne Frucht geblieben ist, und es auf allen Seiten bald an Kraft, bald an Muth, allzeit und überall aber an Geschick und Einsicht fehlt, so glaubt man zuletzt, ein Staatsmann des Alterthums habe mit prophetischem Sinn vorhergesagt, wenn einmal alle Scythen von einer gemeinsamen Idee begeistert seyen, könne ihnen weder in Europa noch in Asien Jemand widerstehen. **) Diese gemeinsame Idee ist aber in unsern Tagen lebendig geworden.

Cato sagte von den Großen seiner Zeit, Cäsar allein habe gewußt, was er wolle, und sey nüchtern ad evertendam rempublicam accessisse. Mancher wäre versucht, diesen Spruch auf das nun in die zwanzig Jahre sich fortschleppende Interveniren der Europäer in die türkisch-griechischen Angelegenheiten zu beziehen. Wie abweichend Russen und Deutsche die res humanas beurtheilen, wie nüchtern und tactfest die einen, wie candid und kindlich-einfältig die andern eingreifen, hat sich am auffallendsten bei der griechischen Revolution gezeigt. Wer z. B. rechnet heute noch auf Verwirklichung der hellenischen Träume, welche damals die Einbildung des Occidents erhitzten und zu den abenteuerlichsten Projecten und Hoffnungen trieben? Ist der Bankerutt nicht vollständig, und fällt der blinde Enthusiast nicht nothwendig zuletzt dem Nüchternen als Beute in die Hand? Während wir glühten, schwärmten und uns besteuerten, blieb der Moskowit kalt und berechnete ruhig, welcher Gewinn für die orthodoxe Kirche und russisches Uebergewicht im Orient aus den hellenischen Verzuckungen der Westländer zu ziehen sey. Man merkte uns schnell ab, daß sich bei Nennung des Worts „Hellene“ nicht nur unser Herz, sondern auch unsere Truhen und Casernen öffnen. Schnell ordnet der Moskowit sein Spiel als Mitgenosse, und nimmt, uns zu Gefallen, das Zauberwort in den Mund, ohne deßwegen unsern Begriff damit zu verbinden. Was denkt sich der Russe unter Hellenen? Unter Hellenen denken sich die Russen Leute, die zu Schiff nach Taganrok und Odessa kommen, mit Sardellen und Caviar handeln, den römischen Papst verabscheuen, ihr Vertrauen

*) Nie sind mehr als 50,000 Russen über die Donau gegangen. Und ist nicht 1813 Kutusow mit 45,000 Mann in Schlesien erschienen?
**) [fremdsprachliches Material – fehlt]
Thucyd. II, 97.
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[1323/0011] stark und lebenssaftig dastehen, mit klarem Sinn, sehnichten Armen und reichgefüllten Taschen, damit er schwache Nachbarn schirmen, Unkundigen politisch rathen, Dürftigen von seinem Ueberflusse mittheilen, überall aber für Ordnung und Sicherheit, für stilles und ehrsames Betragen wachen könne, besonders aber die deutschen Mittelstaaten vor aller Ungebühr der größern, so wie der Propaganda, Demokraten, Ideologen und Metaphysiker zu bewahren vermöge. Geographisch, meint er, sey das Haus jetzt ausgebaut, und die Russen hätten nichts mehr zu thun, als ruhig darin zu wohnen, die Wirthschaft zu besorgen und Hochzeit zu halten, damit sich die leeren Räume füllen, es überall wimmle und gähre und bei künftiger Arbeit nirgend an Lebensbedarf, an Leuten, an Uebung und schicksamen Wesen gebreche. Und in der That, die Politik der beiden Imperatoren Alexander und Nikolaus zeigt klar genug, daß der Pentarchist, wenigstens was Europa betrifft, die volle Wahrheit sagt. Seit Karl XII und Napoleon I hält man das russische Land für unangreifbar, und seine Bevölkerung wächst jedes Jahr um eine Million. In Folge dieses Anschwellens an Volk, sittlicher Kraft und Industrie wird es seine Kriege, wie es zum Theil schon jetzt geschieht, bald „ohne Pulver und Kugel“ führen und Siege erringen ohne die Hand aufzuheben, wie der unbewaffnete Achilles vor Troja. „Allen entfiel der Muth, _ ,“ als mitten im Schlachtgetümmel der fürchterliche Ruf vom Mauerwall erschallte. – Sonderbar, wenn die Welt ihren Frieden den Moskowiten verdanken müßte! – Diplomatische Feldzüge, Uebergriffe und Bedrückungen ärgern und demüthigen wohl die Fürsten, lassen aber die Völker, deren Taschen bei solchem Spiel verschont bleiben, gewöhnlich ungerührt und frostig. Man beschwert sich vielleicht nicht mit Unrecht über die Meisterschaft der Russen im diplomatischen Intriguenspiel. Sie ermüden und erschöpfen, heißt es, durch endlose Unterhandlungen, im Labyrinthe inextricabler Wortmanöver, so wie durch Künste teuflischer Art zuletzt Geduld und Spannkraft aller Gegner, überlisten Freund und Feind, und zwingen die europäischen Cabinette durch Unruhen und Furcht auf Rußlands Neigung und Abneigung, wie auf die Veränderung der Magnetnadel, zu achten. Selbst die entfernt liegenden Staaten wüßten sie in fortwährender Gährung zu erhalten. Ist dieser Vorwurf gegründet, wie man es bei der schwachen Abwehr des Pentarchisten beinahe annehmen darf, so ist Rußlands Aufgabe, wie man sie seit Peter I versteht, ihrer Lösung nahe und ein allgemeines Prätorium ist constituirt, vor dem Völker und Fürsten zu Recht stehen. Nennt den russischen Imperator „Wladimir“ oder „Dschehanghir,“ es wäre dann jedenfalls ein „Herr der Welt.“ So viel ist entschieden, und der Pentarchist gesteht es indirect selbst ein, daß Rußlands geheime Macht über Europa und Asien nicht in furchtbaren Armeen, die über die russische Gränze kämen, sondern im gewandten und raschen Gebrauch weniger zertheilten Haufen, *) hauptsächlich aber in der genauen und persönlichen Kenntniß der sämmtlichen Staatselemente des Morgen- und Abendlandes liege. Wie kein anderer Staat hat Rußland die auswärtigen Verhältnisse nach allen Ursachen und Wirkungen hin durchforscht. Es kennt den politischen Werth oder Unwerth der einzelnen Notabilitäten fremder Reiche vollkommen richtig, und verschwendet deßwegen auch nie weder eine Drohung noch eine Belohnung umsonst. Der Russe berechnet das Maaß des Widerstandes, den der Nachbar zu leisten im Stande wäre, immer treffend, und gründet auf diese richtige Rechnung seinen politischen Principat. Beweist Stand und Gang der diplomatischen Verhandlungen in Sachen des Orients, vom Ausbruch der griechischen Insurrection bis auf die gegenwärtige Stunde, nicht unwiderleglich die Wahrheit vorstehender Charakteristik? Wollt ihr aber die Russen tadeln, daß sie sich durch eigenthümliches Cohäsionsvermögen in fremden Ländern Sympathien schaffen, weder Geld noch kluge Reden, weder politische noch kirchliche Mittel sparen, und durch Gewandtheit oft selbst ihre Neider und Gegner, wie bei Navarin, ihren Zwecken dienstbar machen, so thut es ihnen nach, bekämpft sie mit denselben Waffen, habt auch Talent, seyd auch klug, listig, glatt, verschlagen und Eines Sinnes, säet Gold zur rechten Zeit, gönnt euch keine Rast, seyd gottesfürchtig, singet Litaneien, und fastet sieben Monate im Jahre, zimmert Flotten und recrutirt die Heere und sterbt für euern Glauben und euer Vaterland mit derselben Hingebung, wie die Russen, und ihr werdet dieselben Erfolge haben, die ihr jetzt an den Nachbarn so ungern seht und mit solcher Bitterkeit verdammt Die Herrschaft hat allzeit dem Klugen, dem Standhaften, dem Starken und Thätigen gehört. Vergleicht man aber auf der andern Seite Summe und Art des Widerstandes gegen russische Suprematie, und bedenkt man, wie bisher alles Abmühen der westlichen Höfe, das Anschwellen der Weltlawine zu hemmen, ohne Frucht geblieben ist, und es auf allen Seiten bald an Kraft, bald an Muth, allzeit und überall aber an Geschick und Einsicht fehlt, so glaubt man zuletzt, ein Staatsmann des Alterthums habe mit prophetischem Sinn vorhergesagt, wenn einmal alle Scythen von einer gemeinsamen Idee begeistert seyen, könne ihnen weder in Europa noch in Asien Jemand widerstehen. **) Diese gemeinsame Idee ist aber in unsern Tagen lebendig geworden. Cato sagte von den Großen seiner Zeit, Cäsar allein habe gewußt, was er wolle, und sey nüchtern ad evertendam rempublicam accessisse. Mancher wäre versucht, diesen Spruch auf das nun in die zwanzig Jahre sich fortschleppende Interveniren der Europäer in die türkisch-griechischen Angelegenheiten zu beziehen. Wie abweichend Russen und Deutsche die res humanas beurtheilen, wie nüchtern und tactfest die einen, wie candid und kindlich-einfältig die andern eingreifen, hat sich am auffallendsten bei der griechischen Revolution gezeigt. Wer z. B. rechnet heute noch auf Verwirklichung der hellenischen Träume, welche damals die Einbildung des Occidents erhitzten und zu den abenteuerlichsten Projecten und Hoffnungen trieben? Ist der Bankerutt nicht vollständig, und fällt der blinde Enthusiast nicht nothwendig zuletzt dem Nüchternen als Beute in die Hand? Während wir glühten, schwärmten und uns besteuerten, blieb der Moskowit kalt und berechnete ruhig, welcher Gewinn für die orthodoxe Kirche und russisches Uebergewicht im Orient aus den hellenischen Verzuckungen der Westländer zu ziehen sey. Man merkte uns schnell ab, daß sich bei Nennung des Worts „Hellene“ nicht nur unser Herz, sondern auch unsere Truhen und Casernen öffnen. Schnell ordnet der Moskowit sein Spiel als Mitgenosse, und nimmt, uns zu Gefallen, das Zauberwort in den Mund, ohne deßwegen unsern Begriff damit zu verbinden. Was denkt sich der Russe unter Hellenen? Unter Hellenen denken sich die Russen Leute, die zu Schiff nach Taganrok und Odessa kommen, mit Sardellen und Caviar handeln, den römischen Papst verabscheuen, ihr Vertrauen *) Nie sind mehr als 50,000 Russen über die Donau gegangen. Und ist nicht 1813 Kutusow mit 45,000 Mann in Schlesien erschienen? **) _ Thucyd. II, 97.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 166. Augsburg, 14. Juni 1840, S. 1323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_166_18400614/11>, abgerufen am 28.04.2024.