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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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moderne vollste Volkspoesie, in welcher der Matrose ohne objectives
poetisches Bewußtsein in vollkommener natürlicher Fülle und Frei-
heit lebt. Kein Stand lebt mehr und eigenster als der Matrosen-
stand. Die harte Arbeit, das beständige Ringen mit der stets spie-
lend beseitigten Gefahr, die frische Seeluft stählen Körper und Sinn.
Der Matrose ist voller Sinnesmensch und daher tief religiös, ge-
müthlich und abergläubisch, voll Sinneslust und Genußsucht, aber
enthaltsam, nüchtern und ekel, sobald er zur Ruhe kommt. Der
freie, unbefangene Eintritt in das volle Leben der entferntesten,
verschiedensten Zonen weckt seine Beobachtung und nährt seinen
Scharfsinn, und wiederum führt ihn die lange starre Bannung
an das einsam auf langer Fahrt dahinstreichende Schiff zu sub-
jectiven Betrachtungen, in denen er sich leicht mit allen Scrupeln
abfindet und mit der hellsten Unbefangenheit die wunderlichsten
Philosopheme construirt. Kein Mensch lügt mehr, aber auch arg-
loser als der Matrose, weil er alle seine, selbst die ungeheuerlichsten
Lügen durchaus selbst glaubt; und doch ist er redlich bis zum voll-
sten Verlaß. Alle Matrosen sind sich gleich, und doch ist jeder ein
Original, aber kein einziger eine Caricatur.

Bei dieser vollkommenen Originalität des Wesens und der
Erscheinung bildete sich in entsprechender Eigenthümlichkeit die
norddeutsche Schiffersprache aus, deren unvertilgbare Basis, zum
Hohn aller Versuche, die hochdeutsche Mundart einzuführen, das
köstliche, kräftige Niederdeutsche1) ist und welche höchstens nur

1) Eine der ergötzlichsten Obliegenheiten, welche ich amtlich zu erfüllen
habe, ist die mir anvertraute Leitung der Revierschifferprüfungen. Die dabei
vorkommenden Fragen und Antworten weiß ich reichlich auswendig, sodaß ich
beinahe selbst ein theoretisches Examen zu bestehen mich unterfangen könnte.
Doch sind die Fragen und Antworten immer verschieden und originell. Der amt-
liche Anstand verlangt die dem Examinanden ungeläufige, lästige hochdeutsche
Sprache, in welcher ich die Fragen nach Personalien, Unterricht, Fahrzeit u. s. w.
beginne. Dann folgen die eigentlichen Fachfragen der Examinatoren, erfahrener
Schiffer. Es ist ebenso wunderlich wie unabweislich, daß, sobald die leich-
tern Fragen in hochdeutscher Sprache beseitigt sind und die schwierigern begin-
nen, jedesmal der geplagte Candidat unwillkürlich in das Niederdeutsche sich
flüchtet und die Examinatoren mit in dies salzige Fahrwasser zieht, welches be-

moderne vollſte Volkspoeſie, in welcher der Matroſe ohne objectives
poetiſches Bewußtſein in vollkommener natürlicher Fülle und Frei-
heit lebt. Kein Stand lebt mehr und eigenſter als der Matroſen-
ſtand. Die harte Arbeit, das beſtändige Ringen mit der ſtets ſpie-
lend beſeitigten Gefahr, die friſche Seeluft ſtählen Körper und Sinn.
Der Matroſe iſt voller Sinnesmenſch und daher tief religiös, ge-
müthlich und abergläubiſch, voll Sinnesluſt und Genußſucht, aber
enthaltſam, nüchtern und ekel, ſobald er zur Ruhe kommt. Der
freie, unbefangene Eintritt in das volle Leben der entfernteſten,
verſchiedenſten Zonen weckt ſeine Beobachtung und nährt ſeinen
Scharfſinn, und wiederum führt ihn die lange ſtarre Bannung
an das einſam auf langer Fahrt dahinſtreichende Schiff zu ſub-
jectiven Betrachtungen, in denen er ſich leicht mit allen Scrupeln
abfindet und mit der hellſten Unbefangenheit die wunderlichſten
Philoſopheme conſtruirt. Kein Menſch lügt mehr, aber auch arg-
loſer als der Matroſe, weil er alle ſeine, ſelbſt die ungeheuerlichſten
Lügen durchaus ſelbſt glaubt; und doch iſt er redlich bis zum voll-
ſten Verlaß. Alle Matroſen ſind ſich gleich, und doch iſt jeder ein
Original, aber kein einziger eine Caricatur.

Bei dieſer vollkommenen Originalität des Weſens und der
Erſcheinung bildete ſich in entſprechender Eigenthümlichkeit die
norddeutſche Schifferſprache aus, deren unvertilgbare Baſis, zum
Hohn aller Verſuche, die hochdeutſche Mundart einzuführen, das
köſtliche, kräftige Niederdeutſche1) iſt und welche höchſtens nur

1) Eine der ergötzlichſten Obliegenheiten, welche ich amtlich zu erfüllen
habe, iſt die mir anvertraute Leitung der Revierſchifferprüfungen. Die dabei
vorkommenden Fragen und Antworten weiß ich reichlich auswendig, ſodaß ich
beinahe ſelbſt ein theoretiſches Examen zu beſtehen mich unterfangen könnte.
Doch ſind die Fragen und Antworten immer verſchieden und originell. Der amt-
liche Anſtand verlangt die dem Examinanden ungeläufige, läſtige hochdeutſche
Sprache, in welcher ich die Fragen nach Perſonalien, Unterricht, Fahrzeit u. ſ. w.
beginne. Dann folgen die eigentlichen Fachfragen der Examinatoren, erfahrener
Schiffer. Es iſt ebenſo wunderlich wie unabweislich, daß, ſobald die leich-
tern Fragen in hochdeutſcher Sprache beſeitigt ſind und die ſchwierigern begin-
nen, jedesmal der geplagte Candidat unwillkürlich in das Niederdeutſche ſich
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[109/0143] moderne vollſte Volkspoeſie, in welcher der Matroſe ohne objectives poetiſches Bewußtſein in vollkommener natürlicher Fülle und Frei- heit lebt. Kein Stand lebt mehr und eigenſter als der Matroſen- ſtand. Die harte Arbeit, das beſtändige Ringen mit der ſtets ſpie- lend beſeitigten Gefahr, die friſche Seeluft ſtählen Körper und Sinn. Der Matroſe iſt voller Sinnesmenſch und daher tief religiös, ge- müthlich und abergläubiſch, voll Sinnesluſt und Genußſucht, aber enthaltſam, nüchtern und ekel, ſobald er zur Ruhe kommt. Der freie, unbefangene Eintritt in das volle Leben der entfernteſten, verſchiedenſten Zonen weckt ſeine Beobachtung und nährt ſeinen Scharfſinn, und wiederum führt ihn die lange ſtarre Bannung an das einſam auf langer Fahrt dahinſtreichende Schiff zu ſub- jectiven Betrachtungen, in denen er ſich leicht mit allen Scrupeln abfindet und mit der hellſten Unbefangenheit die wunderlichſten Philoſopheme conſtruirt. Kein Menſch lügt mehr, aber auch arg- loſer als der Matroſe, weil er alle ſeine, ſelbſt die ungeheuerlichſten Lügen durchaus ſelbſt glaubt; und doch iſt er redlich bis zum voll- ſten Verlaß. Alle Matroſen ſind ſich gleich, und doch iſt jeder ein Original, aber kein einziger eine Caricatur. Bei dieſer vollkommenen Originalität des Weſens und der Erſcheinung bildete ſich in entſprechender Eigenthümlichkeit die norddeutſche Schifferſprache aus, deren unvertilgbare Baſis, zum Hohn aller Verſuche, die hochdeutſche Mundart einzuführen, das köſtliche, kräftige Niederdeutſche 1) iſt und welche höchſtens nur 1) Eine der ergötzlichſten Obliegenheiten, welche ich amtlich zu erfüllen habe, iſt die mir anvertraute Leitung der Revierſchifferprüfungen. Die dabei vorkommenden Fragen und Antworten weiß ich reichlich auswendig, ſodaß ich beinahe ſelbſt ein theoretiſches Examen zu beſtehen mich unterfangen könnte. Doch ſind die Fragen und Antworten immer verſchieden und originell. Der amt- liche Anſtand verlangt die dem Examinanden ungeläufige, läſtige hochdeutſche Sprache, in welcher ich die Fragen nach Perſonalien, Unterricht, Fahrzeit u. ſ. w. beginne. Dann folgen die eigentlichen Fachfragen der Examinatoren, erfahrener Schiffer. Es iſt ebenſo wunderlich wie unabweislich, daß, ſobald die leich- tern Fragen in hochdeutſcher Sprache beſeitigt ſind und die ſchwierigern begin- nen, jedesmal der geplagte Candidat unwillkürlich in das Niederdeutſche ſich flüchtet und die Examinatoren mit in dies ſalzige Fahrwaſſer zieht, welches be-

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/143>, abgerufen am 07.05.2024.