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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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verheißt, sondern eine Schar stutzerhaft costümirter und parfümirter
Miethlinge mit verlebten Gesichtern und kecken Blicken den Fremd-
ling mustert, ob er in der Beletage oder wie viel Treppen höher
sein Zimmer zu beziehen hat. Jn der kolossalen Bewegung der
Massen sind die alten bedachten Ordnungen vor dem Wetten und
Wagen und vor der Gelegenheit zur Ausbeutung zurückgewichen
und analoge Erscheinungen hervorgetreten, welche, wie die wege-
lagernden Raubritter des Mittelalters vom Stegreif und Sattel
lebten, so von dem gewaltigen Zuge der materiellen Hin- und Her-
bewegung ihre gelegentliche Beute machen. Wie bei scharfer unbe-
irrter Beobachtung des bewegten kolossalen Körpers eine Menge
verderblicher Polypengewächse an ihm entdeckt werden, welche der
bis zur Krampfhaftigkeit getriebenen Bewegung einen plötzlichen
Zusammenbruch in furchtbarer Krisis drohen: so findet man vor-
züglich an den Endpunkten und Stapelplätzen des Materialismus
eine Schar vagirender Müßiggänger, Comptoirdiener, Fabrikarbeiter,
Kellner u. dgl., welche die eigentlichen fahrenden Schüler des
modernen Materialismus sind und unter denen die Kellner, Tief-
linge (Tiefe,
Keller), sich besonders auszeichnen. Seit der wei-
tern Ausbreitung der Eisenbahnnetze und Dampfschiffahrtslinien
bilden die Kellner eine entschiedene Gruppe im socialpolitischen
Leben, welche nicht nur das reisende Publikum, sondern auch die
Wirthe selbst beherrscht, da die Kellner nicht mehr pflichtige Diener
des Hauses, sondern selbständige Bevollmächtigte der Wirthe sind,
welche sich gegen diese ihre Mandatare nur durch kurze Engage-
ments auf Monats- oder sogar Wochenzeit zu sichern wissen und
sie neben der knappen Gage wesentlich auf die denn auch mit
raffinirter Kunst provocirten Trinkgelder und Nebenverdienste ver-
weisen. Je länger man Polizeimann ist, desto mehr überzeugt
man sich von der Nothwendigkeit einer allgemein durchgreifenden
polizeilichen Wirthshausordnung, welche, über die kahle Fremden-
meldung hinaus, das ganze Wesen und Treiben in den Gasthöfen
regelt und dem Reisenden als billiges Aequivalent für die vielen
Legitimationsplackereien, denen er beständig ausgesetzt ist, min-
destens hinsichtlich seines Eigenthums eine Gewähr leistet, von

verheißt, ſondern eine Schar ſtutzerhaft coſtümirter und parfümirter
Miethlinge mit verlebten Geſichtern und kecken Blicken den Fremd-
ling muſtert, ob er in der Beletage oder wie viel Treppen höher
ſein Zimmer zu beziehen hat. Jn der koloſſalen Bewegung der
Maſſen ſind die alten bedachten Ordnungen vor dem Wetten und
Wagen und vor der Gelegenheit zur Ausbeutung zurückgewichen
und analoge Erſcheinungen hervorgetreten, welche, wie die wege-
lagernden Raubritter des Mittelalters vom Stegreif und Sattel
lebten, ſo von dem gewaltigen Zuge der materiellen Hin- und Her-
bewegung ihre gelegentliche Beute machen. Wie bei ſcharfer unbe-
irrter Beobachtung des bewegten koloſſalen Körpers eine Menge
verderblicher Polypengewächſe an ihm entdeckt werden, welche der
bis zur Krampfhaftigkeit getriebenen Bewegung einen plötzlichen
Zuſammenbruch in furchtbarer Kriſis drohen: ſo findet man vor-
züglich an den Endpunkten und Stapelplätzen des Materialismus
eine Schar vagirender Müßiggänger, Comptoirdiener, Fabrikarbeiter,
Kellner u. dgl., welche die eigentlichen fahrenden Schüler des
modernen Materialismus ſind und unter denen die Kellner, Tief-
linge (Tiefe,
Keller), ſich beſonders auszeichnen. Seit der wei-
tern Ausbreitung der Eiſenbahnnetze und Dampfſchiffahrtslinien
bilden die Kellner eine entſchiedene Gruppe im ſocialpolitiſchen
Leben, welche nicht nur das reiſende Publikum, ſondern auch die
Wirthe ſelbſt beherrſcht, da die Kellner nicht mehr pflichtige Diener
des Hauſes, ſondern ſelbſtändige Bevollmächtigte der Wirthe ſind,
welche ſich gegen dieſe ihre Mandatare nur durch kurze Engage-
ments auf Monats- oder ſogar Wochenzeit zu ſichern wiſſen und
ſie neben der knappen Gage weſentlich auf die denn auch mit
raffinirter Kunſt provocirten Trinkgelder und Nebenverdienſte ver-
weiſen. Je länger man Polizeimann iſt, deſto mehr überzeugt
man ſich von der Nothwendigkeit einer allgemein durchgreifenden
polizeilichen Wirthshausordnung, welche, über die kahle Fremden-
meldung hinaus, das ganze Weſen und Treiben in den Gaſthöfen
regelt und dem Reiſenden als billiges Aequivalent für die vielen
Legitimationsplackereien, denen er beſtändig ausgeſetzt iſt, min-
deſtens hinſichtlich ſeines Eigenthums eine Gewähr leiſtet, von

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[128/0162] verheißt, ſondern eine Schar ſtutzerhaft coſtümirter und parfümirter Miethlinge mit verlebten Geſichtern und kecken Blicken den Fremd- ling muſtert, ob er in der Beletage oder wie viel Treppen höher ſein Zimmer zu beziehen hat. Jn der koloſſalen Bewegung der Maſſen ſind die alten bedachten Ordnungen vor dem Wetten und Wagen und vor der Gelegenheit zur Ausbeutung zurückgewichen und analoge Erſcheinungen hervorgetreten, welche, wie die wege- lagernden Raubritter des Mittelalters vom Stegreif und Sattel lebten, ſo von dem gewaltigen Zuge der materiellen Hin- und Her- bewegung ihre gelegentliche Beute machen. Wie bei ſcharfer unbe- irrter Beobachtung des bewegten koloſſalen Körpers eine Menge verderblicher Polypengewächſe an ihm entdeckt werden, welche der bis zur Krampfhaftigkeit getriebenen Bewegung einen plötzlichen Zuſammenbruch in furchtbarer Kriſis drohen: ſo findet man vor- züglich an den Endpunkten und Stapelplätzen des Materialismus eine Schar vagirender Müßiggänger, Comptoirdiener, Fabrikarbeiter, Kellner u. dgl., welche die eigentlichen fahrenden Schüler des modernen Materialismus ſind und unter denen die Kellner, Tief- linge (Tiefe, Keller), ſich beſonders auszeichnen. Seit der wei- tern Ausbreitung der Eiſenbahnnetze und Dampfſchiffahrtslinien bilden die Kellner eine entſchiedene Gruppe im ſocialpolitiſchen Leben, welche nicht nur das reiſende Publikum, ſondern auch die Wirthe ſelbſt beherrſcht, da die Kellner nicht mehr pflichtige Diener des Hauſes, ſondern ſelbſtändige Bevollmächtigte der Wirthe ſind, welche ſich gegen dieſe ihre Mandatare nur durch kurze Engage- ments auf Monats- oder ſogar Wochenzeit zu ſichern wiſſen und ſie neben der knappen Gage weſentlich auf die denn auch mit raffinirter Kunſt provocirten Trinkgelder und Nebenverdienſte ver- weiſen. Je länger man Polizeimann iſt, deſto mehr überzeugt man ſich von der Nothwendigkeit einer allgemein durchgreifenden polizeilichen Wirthshausordnung, welche, über die kahle Fremden- meldung hinaus, das ganze Weſen und Treiben in den Gaſthöfen regelt und dem Reiſenden als billiges Aequivalent für die vielen Legitimationsplackereien, denen er beſtändig ausgeſetzt iſt, min- deſtens hinſichtlich ſeines Eigenthums eine Gewähr leiſtet, von

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/162>, abgerufen am 29.04.2024.