Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

ihre riesige Gestalt betrachtet, tief erschüttert auf den ersten Blick
sie für eine unvorbereitete, unbegreifliche, plötzliche Mission halten
und ihr die allmähliche geschichtliche Entwickelung absprechen möchte.
Und doch kann die Culturgeschichte das Räthsel lösen. Und doch
wird sie sich, je später, desto schwieriger, aber auch nothge-
drungener an diese Aufgabe machen müssen, um aller tiefen sitt-
lichen Noth willen, der wir uns auch heute noch immer nicht zu
entschlagen wissen. Sie ist aber auch befähigt, durch eine klare
Auffassung der Erscheinung die noch immer ungelöste Aufgabe be-
greiflich zu machen, sobald sie mit gerechter Würdigung die von
der göttlichen Weisheit geschaffenen unverleugbaren Bedingungen
des Fortbestandes der Menschheit mit der vom geoffenbarten Chri-
stenthum gebotenen sittlichen Beherrschung der sinnlichen Menschen-
natur gegen die von der Hierarchie unnatürlich gebotene kahle
Negation der Sinnlichkeit abwägt, welcher der Klerus sogleich
selbst durch seine verworfene Liederlichkeit den ärgsten Hohn sprach
und womit er das eigene Ansehen wie das Ansehen der Kirche
mit der christlichen Zucht und Sitte tief herabwürdigte. Ohne
diese Rücksicht kann die Erscheinung der Prostitution und ihr durch
die Sprache verkörperter Geist sowie ihre Sprache nicht begriffen
werden.

Das schon von Tacitus (Germ., c. 20) mit kurzen, schönen
Zügen gezeichnete Bild: Sera juvenum venus; eoque inexhausta
pubertas, nec virgines festinantur; eadem juventa, similis pro-
ceritas, pares validaeque miscentur: ac robora parentum liberi
referunt
-- erhält schon eine starke Trübung durch das bei ungleicher
Standesgeburt zugelassene Concubinat1), welchem die Kirche die
priesterliche Einsegnung versagte. Die Kirche konnte jedoch durch

1) Vgl. Grimm, "Deutsche Rechtsalterthümer", S. 438, Note 2, wo (nach
Bouquet, "Ann. bert.", 7, 107) von Karl dem Kahlen angeführt wird: So-
rorem Bosonis nomine Richildem mox sibi adduci fecit et in concu-
binam
accepit;
und bald darauf heißt es: Praedictam concubinam suam
Richildem desponsatam atque dotatam sibi in conjugium sumpsit;
also
der scharfe Unterschied zwischen Concubinat und später folgender Ehe. Grimm
scheint diesen Concubinat für eine deutsche Eigenthümlichkeit zu nehmen. Doch

ihre rieſige Geſtalt betrachtet, tief erſchüttert auf den erſten Blick
ſie für eine unvorbereitete, unbegreifliche, plötzliche Miſſion halten
und ihr die allmähliche geſchichtliche Entwickelung abſprechen möchte.
Und doch kann die Culturgeſchichte das Räthſel löſen. Und doch
wird ſie ſich, je ſpäter, deſto ſchwieriger, aber auch nothge-
drungener an dieſe Aufgabe machen müſſen, um aller tiefen ſitt-
lichen Noth willen, der wir uns auch heute noch immer nicht zu
entſchlagen wiſſen. Sie iſt aber auch befähigt, durch eine klare
Auffaſſung der Erſcheinung die noch immer ungelöſte Aufgabe be-
greiflich zu machen, ſobald ſie mit gerechter Würdigung die von
der göttlichen Weisheit geſchaffenen unverleugbaren Bedingungen
des Fortbeſtandes der Menſchheit mit der vom geoffenbarten Chri-
ſtenthum gebotenen ſittlichen Beherrſchung der ſinnlichen Menſchen-
natur gegen die von der Hierarchie unnatürlich gebotene kahle
Negation der Sinnlichkeit abwägt, welcher der Klerus ſogleich
ſelbſt durch ſeine verworfene Liederlichkeit den ärgſten Hohn ſprach
und womit er das eigene Anſehen wie das Anſehen der Kirche
mit der chriſtlichen Zucht und Sitte tief herabwürdigte. Ohne
dieſe Rückſicht kann die Erſcheinung der Proſtitution und ihr durch
die Sprache verkörperter Geiſt ſowie ihre Sprache nicht begriffen
werden.

Das ſchon von Tacitus (Germ., c. 20) mit kurzen, ſchönen
Zügen gezeichnete Bild: Sera juvenum venus; eoque inexhausta
pubertas, nec virgines festinantur; eadem juventa, similis pro-
ceritas, pares validaeque miscentur: ac robora parentum liberi
referunt
— erhält ſchon eine ſtarke Trübung durch das bei ungleicher
Standesgeburt zugelaſſene Concubinat1), welchem die Kirche die
prieſterliche Einſegnung verſagte. Die Kirche konnte jedoch durch

1) Vgl. Grimm, „Deutſche Rechtsalterthümer“, S. 438, Note 2, wo (nach
Bouquet, „Ann. bert.“, 7, 107) von Karl dem Kahlen angeführt wird: So-
rorem Bosonis nomine Richildem mox sibi adduci fecit et in concu-
binam
accepit;
und bald darauf heißt es: Praedictam concubinam suam
Richildem desponsatam atque dotatam sibi in conjugium sumpsit;
alſo
der ſcharfe Unterſchied zwiſchen Concubinat und ſpäter folgender Ehe. Grimm
ſcheint dieſen Concubinat für eine deutſche Eigenthümlichkeit zu nehmen. Doch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0192" n="158"/>
ihre rie&#x017F;ige Ge&#x017F;talt betrachtet, tief er&#x017F;chüttert auf den er&#x017F;ten Blick<lb/>
&#x017F;ie für eine unvorbereitete, unbegreifliche, plötzliche Mi&#x017F;&#x017F;ion halten<lb/>
und ihr die allmähliche ge&#x017F;chichtliche Entwickelung ab&#x017F;prechen möchte.<lb/>
Und doch kann die Culturge&#x017F;chichte das Räth&#x017F;el lö&#x017F;en. Und doch<lb/>
wird &#x017F;ie &#x017F;ich, je &#x017F;päter, de&#x017F;to &#x017F;chwieriger, aber auch nothge-<lb/>
drungener an die&#x017F;e Aufgabe machen mü&#x017F;&#x017F;en, um aller tiefen &#x017F;itt-<lb/>
lichen Noth willen, der wir uns auch heute noch immer nicht zu<lb/>
ent&#x017F;chlagen wi&#x017F;&#x017F;en. Sie i&#x017F;t aber auch befähigt, durch eine klare<lb/>
Auffa&#x017F;&#x017F;ung der Er&#x017F;cheinung die noch immer ungelö&#x017F;te Aufgabe be-<lb/>
greiflich zu machen, &#x017F;obald &#x017F;ie mit gerechter Würdigung die von<lb/>
der göttlichen Weisheit ge&#x017F;chaffenen unverleugbaren Bedingungen<lb/>
des Fortbe&#x017F;tandes der Men&#x017F;chheit mit der vom geoffenbarten Chri-<lb/>
&#x017F;tenthum gebotenen &#x017F;ittlichen Beherr&#x017F;chung der &#x017F;innlichen Men&#x017F;chen-<lb/>
natur gegen die von der Hierarchie unnatürlich gebotene kahle<lb/>
Negation der Sinnlichkeit abwägt, welcher der Klerus &#x017F;ogleich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t durch &#x017F;eine verworfene Liederlichkeit den ärg&#x017F;ten Hohn &#x017F;prach<lb/>
und womit er das eigene An&#x017F;ehen wie das An&#x017F;ehen der Kirche<lb/>
mit der chri&#x017F;tlichen Zucht und Sitte tief herabwürdigte. Ohne<lb/>
die&#x017F;e Rück&#x017F;icht kann die Er&#x017F;cheinung der Pro&#x017F;titution und ihr durch<lb/>
die Sprache verkörperter Gei&#x017F;t &#x017F;owie ihre Sprache nicht begriffen<lb/>
werden.</p><lb/>
            <p>Das &#x017F;chon von Tacitus (<hi rendition="#aq">Germ., c.</hi> 20) mit kurzen, &#x017F;chönen<lb/>
Zügen gezeichnete Bild: <hi rendition="#aq">Sera juvenum venus; eoque inexhausta<lb/>
pubertas, nec virgines festinantur; eadem juventa, similis pro-<lb/>
ceritas, pares validaeque miscentur: ac robora parentum liberi<lb/>
referunt</hi> &#x2014; erhält &#x017F;chon eine &#x017F;tarke Trübung durch das bei ungleicher<lb/>
Standesgeburt zugela&#x017F;&#x017F;ene Concubinat<note xml:id="seg2pn_20_1" next="#seg2pn_20_2" place="foot" n="1)">Vgl. Grimm, &#x201E;Deut&#x017F;che Rechtsalterthümer&#x201C;, S. 438, Note 2, wo (nach<lb/>
Bouquet, &#x201E;<hi rendition="#aq">Ann. bert.</hi>&#x201C;, 7, 107) von Karl dem Kahlen angeführt wird: <hi rendition="#aq">So-<lb/>
rorem Bosonis nomine Richildem mox sibi adduci fecit et in <hi rendition="#g">concu-<lb/>
binam</hi> accepit;</hi> und bald darauf heißt es: <hi rendition="#aq">Praedictam concubinam suam<lb/>
Richildem desponsatam atque dotatam sibi in <hi rendition="#g">conjugium</hi> sumpsit;</hi> al&#x017F;o<lb/>
der &#x017F;charfe Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen Concubinat und &#x017F;päter folgender Ehe. Grimm<lb/>
&#x017F;cheint die&#x017F;en Concubinat für eine deut&#x017F;che Eigenthümlichkeit zu nehmen. Doch</note>, welchem die Kirche die<lb/>
prie&#x017F;terliche Ein&#x017F;egnung ver&#x017F;agte. Die Kirche konnte jedoch durch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[158/0192] ihre rieſige Geſtalt betrachtet, tief erſchüttert auf den erſten Blick ſie für eine unvorbereitete, unbegreifliche, plötzliche Miſſion halten und ihr die allmähliche geſchichtliche Entwickelung abſprechen möchte. Und doch kann die Culturgeſchichte das Räthſel löſen. Und doch wird ſie ſich, je ſpäter, deſto ſchwieriger, aber auch nothge- drungener an dieſe Aufgabe machen müſſen, um aller tiefen ſitt- lichen Noth willen, der wir uns auch heute noch immer nicht zu entſchlagen wiſſen. Sie iſt aber auch befähigt, durch eine klare Auffaſſung der Erſcheinung die noch immer ungelöſte Aufgabe be- greiflich zu machen, ſobald ſie mit gerechter Würdigung die von der göttlichen Weisheit geſchaffenen unverleugbaren Bedingungen des Fortbeſtandes der Menſchheit mit der vom geoffenbarten Chri- ſtenthum gebotenen ſittlichen Beherrſchung der ſinnlichen Menſchen- natur gegen die von der Hierarchie unnatürlich gebotene kahle Negation der Sinnlichkeit abwägt, welcher der Klerus ſogleich ſelbſt durch ſeine verworfene Liederlichkeit den ärgſten Hohn ſprach und womit er das eigene Anſehen wie das Anſehen der Kirche mit der chriſtlichen Zucht und Sitte tief herabwürdigte. Ohne dieſe Rückſicht kann die Erſcheinung der Proſtitution und ihr durch die Sprache verkörperter Geiſt ſowie ihre Sprache nicht begriffen werden. Das ſchon von Tacitus (Germ., c. 20) mit kurzen, ſchönen Zügen gezeichnete Bild: Sera juvenum venus; eoque inexhausta pubertas, nec virgines festinantur; eadem juventa, similis pro- ceritas, pares validaeque miscentur: ac robora parentum liberi referunt — erhält ſchon eine ſtarke Trübung durch das bei ungleicher Standesgeburt zugelaſſene Concubinat 1), welchem die Kirche die prieſterliche Einſegnung verſagte. Die Kirche konnte jedoch durch 1) Vgl. Grimm, „Deutſche Rechtsalterthümer“, S. 438, Note 2, wo (nach Bouquet, „Ann. bert.“, 7, 107) von Karl dem Kahlen angeführt wird: So- rorem Bosonis nomine Richildem mox sibi adduci fecit et in concu- binam accepit; und bald darauf heißt es: Praedictam concubinam suam Richildem desponsatam atque dotatam sibi in conjugium sumpsit; alſo der ſcharfe Unterſchied zwiſchen Concubinat und ſpäter folgender Ehe. Grimm ſcheint dieſen Concubinat für eine deutſche Eigenthümlichkeit zu nehmen. Doch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/192
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/192>, abgerufen am 29.04.2024.