Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

gehören. So z. B. führt Thiele, der doch die bekannte Vocabel
Godel Rosche nicht kennt, den Rasche (falsch für Raschi, Rabbi
Salomo Ben Jsaak, vgl. [irrelevantes Material - Zeichen fehlt], Th. III, S. 331, den berühmten
Commentator der Bibel und des Talmud) als "Uebersetzung der
fünf Bücher Moses" an, obschon der Raschi (wie auch die Mischna)
am allerwenigsten ins Gaunerthum hineingehört und auch nicht
einmal bei Selig erwähnt wird. Die Erläuterung vieler jüdischer
religiöser Gebräuche und Ausdrucksformen, wie z. B. Chalize,
Kiddusch, Mitzwo, Tnai, Tnoimschreiben, Pidjeni ben u. s. w.,
welche ohnehin nicht einmal erschöpfend und richtig erklärt sind,
ist für den Zweck eines Gaunerwörterbuchs überflüssig. Alle diese
Ausdrücke, sowie eine Menge anderer aus dem bürgerlichen und
häuslichen Leben der Juden hat Thiele auch nicht aus Gauner-
munde geschöpft, sondern aus Selig's trockenen und dürftigen Er-
läuterungen abgeschrieben und seinem Gaunerwörterbuche einver-
leibt, wohin sie nur vereinzelt und auch nur insoweit gehören, als
sie eine bestimmte Beziehung zur Gaunerkunst haben, oder, wie
z. B. Challe, Challe backen, mit gezwungener bildlicher Bedeutung
auf eine specielle gaunerische Thätigkeit oder Situation übertragen
sind. Wesentlich durch diese ungehörige Häufung von jüdischdeut-
schen Bezeichnungen aus dem jüdischen Leben und durch ihre ge-
waltsame Hinüberziehung in die Gaunersprache hat Thiele diese
mit dem Jüdischdeutschen identificirt, den Charakter und Zweck
beider Ausdrucksformen verwirrt und leider auch die sittliche Gel-
tung des Judenthums überhaupt stark und übel afficirt. Sondert
man nun mit ruhigem Maßstabe der Kritik jene Menge von Aus-
drücken aus der Wortmasse bei Thiele ab, so erhält man als Re-
siduum ein Gaunerwörterbuch, welches durchaus nicht stärker mit
Judendeutsch verfärbt ist, als alle vor Thiele erschienenen und die
deutsche Gaunersprache abhandelnden Gaunerwörterbücher, bei wel-
chen ebenso wenig die Rede ist von einer specifisch jüdischen Gau-
nersprache, als von einem specifisch jüdischen Gaunerthum. So
kann man denn Thiele immerhin einen wenn auch nicht ausge-
zeichneten, doch anerkennenswerthen Vocabelnsammler nennen,
dessen Lese allerdings Beachtung verdient, aber aus den darge-

gehören. So z. B. führt Thiele, der doch die bekannte Vocabel
Godel Roſche nicht kennt, den Raſche (falſch für Raſchi, Rabbi
Salomo Ben Jſaak, vgl. [irrelevantes Material – Zeichen fehlt], Th. III, S. 331, den berühmten
Commentator der Bibel und des Talmud) als „Ueberſetzung der
fünf Bücher Moſes“ an, obſchon der Raſchi (wie auch die Miſchna)
am allerwenigſten ins Gaunerthum hineingehört und auch nicht
einmal bei Selig erwähnt wird. Die Erläuterung vieler jüdiſcher
religiöſer Gebräuche und Ausdrucksformen, wie z. B. Chalize,
Kidduſch, Mitzwo, Tnai, Tnoimſchreiben, Pidjeni ben u. ſ. w.,
welche ohnehin nicht einmal erſchöpfend und richtig erklärt ſind,
iſt für den Zweck eines Gaunerwörterbuchs überflüſſig. Alle dieſe
Ausdrücke, ſowie eine Menge anderer aus dem bürgerlichen und
häuslichen Leben der Juden hat Thiele auch nicht aus Gauner-
munde geſchöpft, ſondern aus Selig’s trockenen und dürftigen Er-
läuterungen abgeſchrieben und ſeinem Gaunerwörterbuche einver-
leibt, wohin ſie nur vereinzelt und auch nur inſoweit gehören, als
ſie eine beſtimmte Beziehung zur Gaunerkunſt haben, oder, wie
z. B. Challe, Challe backen, mit gezwungener bildlicher Bedeutung
auf eine ſpecielle gauneriſche Thätigkeit oder Situation übertragen
ſind. Weſentlich durch dieſe ungehörige Häufung von jüdiſchdeut-
ſchen Bezeichnungen aus dem jüdiſchen Leben und durch ihre ge-
waltſame Hinüberziehung in die Gaunerſprache hat Thiele dieſe
mit dem Jüdiſchdeutſchen identificirt, den Charakter und Zweck
beider Ausdrucksformen verwirrt und leider auch die ſittliche Gel-
tung des Judenthums überhaupt ſtark und übel afficirt. Sondert
man nun mit ruhigem Maßſtabe der Kritik jene Menge von Aus-
drücken aus der Wortmaſſe bei Thiele ab, ſo erhält man als Re-
ſiduum ein Gaunerwörterbuch, welches durchaus nicht ſtärker mit
Judendeutſch verfärbt iſt, als alle vor Thiele erſchienenen und die
deutſche Gaunerſprache abhandelnden Gaunerwörterbücher, bei wel-
chen ebenſo wenig die Rede iſt von einer ſpecifiſch jüdiſchen Gau-
nerſprache, als von einem ſpecifiſch jüdiſchen Gaunerthum. So
kann man denn Thiele immerhin einen wenn auch nicht ausge-
zeichneten, doch anerkennenswerthen Vocabelnſammler nennen,
deſſen Leſe allerdings Beachtung verdient, aber aus den darge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0274" n="262"/>
gehören. So z. B. führt Thiele, der doch die bekannte Vocabel<lb/>
Godel Ro&#x017F;che nicht kennt, den <hi rendition="#g">Ra&#x017F;che</hi> (fal&#x017F;ch für <hi rendition="#g">Ra&#x017F;chi,</hi> Rabbi<lb/>
Salomo Ben J&#x017F;aak, vgl. <gap reason="insignificant" unit="chars"/>, Th. <hi rendition="#aq">III,</hi> S. 331, den berühmten<lb/>
Commentator der Bibel und des Talmud) als &#x201E;Ueber&#x017F;etzung der<lb/>
fünf Bücher Mo&#x017F;es&#x201C; an, ob&#x017F;chon der Ra&#x017F;chi (wie auch die Mi&#x017F;chna)<lb/>
am allerwenig&#x017F;ten ins Gaunerthum hineingehört und auch nicht<lb/>
einmal bei Selig erwähnt wird. Die Erläuterung vieler jüdi&#x017F;cher<lb/>
religiö&#x017F;er Gebräuche und Ausdrucksformen, wie z. B. Chalize,<lb/>
Kiddu&#x017F;ch, Mitzwo, Tnai, Tnoim&#x017F;chreiben, Pidjeni ben u. &#x017F;. w.,<lb/>
welche ohnehin nicht einmal er&#x017F;chöpfend und richtig erklärt &#x017F;ind,<lb/>
i&#x017F;t für den Zweck eines Gaunerwörterbuchs überflü&#x017F;&#x017F;ig. Alle die&#x017F;e<lb/>
Ausdrücke, &#x017F;owie eine Menge anderer aus dem bürgerlichen und<lb/>
häuslichen Leben der Juden hat Thiele auch nicht aus Gauner-<lb/>
munde ge&#x017F;chöpft, &#x017F;ondern aus Selig&#x2019;s trockenen und dürftigen Er-<lb/>
läuterungen abge&#x017F;chrieben und &#x017F;einem Gaunerwörterbuche einver-<lb/>
leibt, wohin &#x017F;ie nur vereinzelt und auch nur in&#x017F;oweit gehören, als<lb/>
&#x017F;ie eine be&#x017F;timmte Beziehung zur Gaunerkun&#x017F;t haben, oder, wie<lb/>
z. B. Challe, Challe backen, mit gezwungener bildlicher Bedeutung<lb/>
auf eine &#x017F;pecielle gauneri&#x017F;che Thätigkeit oder Situation übertragen<lb/>
&#x017F;ind. We&#x017F;entlich durch die&#x017F;e ungehörige Häufung von jüdi&#x017F;chdeut-<lb/>
&#x017F;chen Bezeichnungen aus dem jüdi&#x017F;chen Leben und durch ihre ge-<lb/>
walt&#x017F;ame Hinüberziehung in die Gauner&#x017F;prache hat Thiele die&#x017F;e<lb/>
mit dem Jüdi&#x017F;chdeut&#x017F;chen identificirt, den Charakter und Zweck<lb/>
beider Ausdrucksformen verwirrt und leider auch die &#x017F;ittliche Gel-<lb/>
tung des Judenthums überhaupt &#x017F;tark und übel afficirt. Sondert<lb/>
man nun mit ruhigem Maß&#x017F;tabe der Kritik jene Menge von Aus-<lb/>
drücken aus der Wortma&#x017F;&#x017F;e bei Thiele ab, &#x017F;o erhält man als Re-<lb/>
&#x017F;iduum ein Gaunerwörterbuch, welches durchaus nicht &#x017F;tärker mit<lb/>
Judendeut&#x017F;ch verfärbt i&#x017F;t, als alle vor Thiele er&#x017F;chienenen und die<lb/>
deut&#x017F;che Gauner&#x017F;prache abhandelnden Gaunerwörterbücher, bei wel-<lb/>
chen eben&#x017F;o wenig die Rede i&#x017F;t von einer &#x017F;pecifi&#x017F;ch jüdi&#x017F;chen Gau-<lb/>
ner&#x017F;prache, als von einem &#x017F;pecifi&#x017F;ch jüdi&#x017F;chen Gaunerthum. So<lb/>
kann man denn Thiele immerhin einen wenn auch nicht ausge-<lb/>
zeichneten, doch anerkennenswerthen Vocabeln&#x017F;ammler nennen,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Le&#x017F;e allerdings Beachtung verdient, aber aus den darge-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0274] gehören. So z. B. führt Thiele, der doch die bekannte Vocabel Godel Roſche nicht kennt, den Raſche (falſch für Raſchi, Rabbi Salomo Ben Jſaak, vgl. _ , Th. III, S. 331, den berühmten Commentator der Bibel und des Talmud) als „Ueberſetzung der fünf Bücher Moſes“ an, obſchon der Raſchi (wie auch die Miſchna) am allerwenigſten ins Gaunerthum hineingehört und auch nicht einmal bei Selig erwähnt wird. Die Erläuterung vieler jüdiſcher religiöſer Gebräuche und Ausdrucksformen, wie z. B. Chalize, Kidduſch, Mitzwo, Tnai, Tnoimſchreiben, Pidjeni ben u. ſ. w., welche ohnehin nicht einmal erſchöpfend und richtig erklärt ſind, iſt für den Zweck eines Gaunerwörterbuchs überflüſſig. Alle dieſe Ausdrücke, ſowie eine Menge anderer aus dem bürgerlichen und häuslichen Leben der Juden hat Thiele auch nicht aus Gauner- munde geſchöpft, ſondern aus Selig’s trockenen und dürftigen Er- läuterungen abgeſchrieben und ſeinem Gaunerwörterbuche einver- leibt, wohin ſie nur vereinzelt und auch nur inſoweit gehören, als ſie eine beſtimmte Beziehung zur Gaunerkunſt haben, oder, wie z. B. Challe, Challe backen, mit gezwungener bildlicher Bedeutung auf eine ſpecielle gauneriſche Thätigkeit oder Situation übertragen ſind. Weſentlich durch dieſe ungehörige Häufung von jüdiſchdeut- ſchen Bezeichnungen aus dem jüdiſchen Leben und durch ihre ge- waltſame Hinüberziehung in die Gaunerſprache hat Thiele dieſe mit dem Jüdiſchdeutſchen identificirt, den Charakter und Zweck beider Ausdrucksformen verwirrt und leider auch die ſittliche Gel- tung des Judenthums überhaupt ſtark und übel afficirt. Sondert man nun mit ruhigem Maßſtabe der Kritik jene Menge von Aus- drücken aus der Wortmaſſe bei Thiele ab, ſo erhält man als Re- ſiduum ein Gaunerwörterbuch, welches durchaus nicht ſtärker mit Judendeutſch verfärbt iſt, als alle vor Thiele erſchienenen und die deutſche Gaunerſprache abhandelnden Gaunerwörterbücher, bei wel- chen ebenſo wenig die Rede iſt von einer ſpecifiſch jüdiſchen Gau- nerſprache, als von einem ſpecifiſch jüdiſchen Gaunerthum. So kann man denn Thiele immerhin einen wenn auch nicht ausge- zeichneten, doch anerkennenswerthen Vocabelnſammler nennen, deſſen Leſe allerdings Beachtung verdient, aber aus den darge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/274
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/274>, abgerufen am 28.04.2024.