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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Vorläufer Charles Peguys auch nur etwas Aehnliches an
die Seite zu stellen? 55) Es wäre wohl an der Zeit, sich
daran zu erinnern, dass Ludwig Börne, den Mehring frei-
lich ebenso als Spiesser abtun wird, wie Heine ihn abtat,
diese "Paroles d'un Croyant" 1834 ins Deutsche übertrug,
weil er es für möglich hielt, "durch ein Bündnis zwischen
politischem und religiösem Radikalismus" eher als mittels
rationaler Philosophie "dem heillosen und infamen Treiben
der deutschen Regierungen ein Ende zu machen"!

Und Louis Blanc, der ängstliche Kleinbürger: -- hatte
er Unrecht, wenn er die deutsche Jugend "zwar beglück-
wünschte, dass sie anfange, ihre Aufmerksamkeit auf die
Praxis des Lebens zu richten", aber sie vor dem Atheismus
warnte, "da der Atheismus in der Philosophie die Anarchie
in der Politik zur notwendigen Folge habe"? Wenn er
sie darauf aufmerksam machte, dass sie als Junghegelianer
durch ihr Bekenntnis zu Diderot, Holbach und den fran-
zösischen Materialisten um fast ein Jahrhundert zu spät
kamen? Verhimmeln sich die Marxisten nicht die intellek-
tuellen Kämpfe des praktischen Lebens heute viel ärgerlicher
und blinder in ihrem famosen Klassenkampf? Wo wagt
denn einer mit der päpstlichen Kirche des Marxismus zu
brechen und einen geläuterten Sozialismus zu restituieren? 56) Was ist denn Marx den Vertretern des damaligen Westens
gewesen? Zunächst ein schlechter Charakter, und es ist nicht
erhört worden, dass man unter Franzosen, Engländern oder
Russen ein grosser Mann bleiben und doch ein schlechter
Charakter könne gewesen sein.

Ob Marx und sein Kreis sich in Paris, Brüssel oder
London präsentierten, immer sind es dieselben Klagen über
perfides, spiesserhaftes und verleumderisches Wesen, die sich
in den Briefen und Memoiren der damaligen Führer finden,
und man fälscht die Geschichte, wenn man die Gründe
hierfür aus Chauvinismus den andern zuschiebt, statt sie bei
sich zu hause zu suchen. Bakunin über Marx (Brüssel, De-

Vorläufer Charles Péguys auch nur etwas Aehnliches an
die Seite zu stellen? 55) Es wäre wohl an der Zeit, sich
daran zu erinnern, dass Ludwig Börne, den Mehring frei-
lich ebenso als Spiesser abtun wird, wie Heine ihn abtat,
diese „Paroles d'un Croyant“ 1834 ins Deutsche übertrug,
weil er es für möglich hielt, „durch ein Bündnis zwischen
politischem und religiösem Radikalismus“ eher als mittels
rationaler Philosophie „dem heillosen und infamen Treiben
der deutschen Regierungen ein Ende zu machen“!

Und Louis Blanc, der ängstliche Kleinbürger: — hatte
er Unrecht, wenn er die deutsche Jugend „zwar beglück-
wünschte, dass sie anfange, ihre Aufmerksamkeit auf die
Praxis des Lebens zu richten“, aber sie vor dem Atheismus
warnte, „da der Atheismus in der Philosophie die Anarchie
in der Politik zur notwendigen Folge habe“? Wenn er
sie darauf aufmerksam machte, dass sie als Junghegelianer
durch ihr Bekenntnis zu Diderot, Holbach und den fran-
zösischen Materialisten um fast ein Jahrhundert zu spät
kamen? Verhimmeln sich die Marxisten nicht die intellek-
tuellen Kämpfe des praktischen Lebens heute viel ärgerlicher
und blinder in ihrem famosen Klassenkampf? Wo wagt
denn einer mit der päpstlichen Kirche des Marxismus zu
brechen und einen geläuterten Sozialismus zu restituieren? 56) Was ist denn Marx den Vertretern des damaligen Westens
gewesen? Zunächst ein schlechter Charakter, und es ist nicht
erhört worden, dass man unter Franzosen, Engländern oder
Russen ein grosser Mann bleiben und doch ein schlechter
Charakter könne gewesen sein.

Ob Marx und sein Kreis sich in Paris, Brüssel oder
London präsentierten, immer sind es dieselben Klagen über
perfides, spiesserhaftes und verleumderisches Wesen, die sich
in den Briefen und Memoiren der damaligen Führer finden,
und man fälscht die Geschichte, wenn man die Gründe
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sich zu hause zu suchen. Bakunin über Marx (Brüssel, De-

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[148/0156] Vorläufer Charles Péguys auch nur etwas Aehnliches an die Seite zu stellen? ⁵⁵⁾ Es wäre wohl an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass Ludwig Börne, den Mehring frei- lich ebenso als Spiesser abtun wird, wie Heine ihn abtat, diese „Paroles d'un Croyant“ 1834 ins Deutsche übertrug, weil er es für möglich hielt, „durch ein Bündnis zwischen politischem und religiösem Radikalismus“ eher als mittels rationaler Philosophie „dem heillosen und infamen Treiben der deutschen Regierungen ein Ende zu machen“! Und Louis Blanc, der ängstliche Kleinbürger: — hatte er Unrecht, wenn er die deutsche Jugend „zwar beglück- wünschte, dass sie anfange, ihre Aufmerksamkeit auf die Praxis des Lebens zu richten“, aber sie vor dem Atheismus warnte, „da der Atheismus in der Philosophie die Anarchie in der Politik zur notwendigen Folge habe“? Wenn er sie darauf aufmerksam machte, dass sie als Junghegelianer durch ihr Bekenntnis zu Diderot, Holbach und den fran- zösischen Materialisten um fast ein Jahrhundert zu spät kamen? Verhimmeln sich die Marxisten nicht die intellek- tuellen Kämpfe des praktischen Lebens heute viel ärgerlicher und blinder in ihrem famosen Klassenkampf? Wo wagt denn einer mit der päpstlichen Kirche des Marxismus zu brechen und einen geläuterten Sozialismus zu restituieren? ⁵⁶⁾ Was ist denn Marx den Vertretern des damaligen Westens gewesen? Zunächst ein schlechter Charakter, und es ist nicht erhört worden, dass man unter Franzosen, Engländern oder Russen ein grosser Mann bleiben und doch ein schlechter Charakter könne gewesen sein. Ob Marx und sein Kreis sich in Paris, Brüssel oder London präsentierten, immer sind es dieselben Klagen über perfides, spiesserhaftes und verleumderisches Wesen, die sich in den Briefen und Memoiren der damaligen Führer finden, und man fälscht die Geschichte, wenn man die Gründe hierfür aus Chauvinismus den andern zuschiebt, statt sie bei sich zu hause zu suchen. Bakunin über Marx (Brüssel, De-

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/156>, abgerufen am 26.04.2024.