Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

überzeugen vermochten, dort schimpften sie "Bourgeois,
Spiesser, Utopist".

Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem
Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche
Literatur der französischen und englischen Sozialisten des
beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus über-
haupt nicht existieren würde, -- durch die despotische Eifer-
sucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland
entfernt und verfehmt. Die Diktatur Marxens und das Apostel-
tum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge
des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch,
dass Ideenkonflikte von so ausserordentlicher prinzipieller
Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in
ganz bewusster Entstellung nach Deutschland gelangten 60).
Jene Polemik sans facon aber, der sogenannte "Mistgabelstil",
der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie
eignete, hielt der Bewegung gerade die junge bürgerliche
Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien,
Russland, Frankreich und England die begeisterten Vor-
kämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es
dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend
in seinen Bannkreis zu ziehen.

Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegel'schen
Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man
mit nach Paris? Heine spricht von den "Schriftstellern des
heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen
wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr
die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion,
und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel
sind" 61). Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirk-
lichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf.
Italiener behaupten, der Sammelruf "Jungdeutschland" selbst
sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische
Aufsätze "Unterweisung für die Verbrüderten des jungen
Italien", "Manifest der Giovine Italia" und "Vom jungen

überzeugen vermochten, dort schimpften sie „Bourgeois,
Spiesser, Utopist“.

Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem
Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche
Literatur der französischen und englischen Sozialisten des
beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus über-
haupt nicht existieren würde, — durch die despotische Eifer-
sucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland
entfernt und verfehmt. Die Diktatur Marxens und das Apostel-
tum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge
des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch,
dass Ideenkonflikte von so ausserordentlicher prinzipieller
Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in
ganz bewusster Entstellung nach Deutschland gelangten 60).
Jene Polemik sans façon aber, der sogenannte „Mistgabelstil“,
der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie
eignete, hielt der Bewegung gerade die junge bürgerliche
Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien,
Russland, Frankreich und England die begeisterten Vor-
kämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es
dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend
in seinen Bannkreis zu ziehen.

Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegel'schen
Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man
mit nach Paris? Heine spricht von den „Schriftstellern des
heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen
wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr
die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion,
und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel
sind“ 61). Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirk-
lichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf.
Italiener behaupten, der Sammelruf „Jungdeutschland“ selbst
sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische
Aufsätze „Unterweisung für die Verbrüderten des jungen
Italien“, „Manifest der Giovine Italia“ und „Vom jungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0158" n="150"/>
überzeugen vermochten, dort schimpften sie &#x201E;Bourgeois,<lb/>
Spiesser, Utopist&#x201C;.</p><lb/>
          <p>Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem<lb/>
Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche<lb/>
Literatur der französischen und englischen Sozialisten des<lb/>
beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus über-<lb/>
haupt nicht existieren würde, &#x2014; durch die despotische Eifer-<lb/>
sucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland<lb/>
entfernt und verfehmt. Die Diktatur Marxens und das Apostel-<lb/>
tum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge<lb/>
des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch,<lb/>
dass Ideenkonflikte von so ausserordentlicher prinzipieller<lb/>
Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in<lb/>
ganz bewusster Entstellung nach Deutschland gelangten <note xml:id="id60c" next="id60c60c" place="end" n="60)"/>.<lb/>
Jene Polemik sans façon aber, der sogenannte &#x201E;Mistgabelstil&#x201C;,<lb/>
der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie<lb/>
eignete, hielt der Bewegung gerade die junge bürgerliche<lb/>
Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien,<lb/>
Russland, Frankreich und England die begeisterten Vor-<lb/>
kämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es<lb/>
dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend<lb/>
in seinen Bannkreis zu ziehen.</p><lb/>
          <p>Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegel'schen<lb/>
Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man<lb/>
mit nach Paris? Heine spricht von den &#x201E;Schriftstellern des<lb/>
heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen<lb/>
wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr<lb/>
die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion,<lb/>
und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel<lb/>
sind&#x201C; <note xml:id="id61c" next="id61c61c" place="end" n="61)"/>. Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirk-<lb/>
lichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf.<lb/>
Italiener behaupten, der Sammelruf &#x201E;Jungdeutschland&#x201C; selbst<lb/>
sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische<lb/>
Aufsätze &#x201E;Unterweisung für die Verbrüderten des jungen<lb/>
Italien&#x201C;, &#x201E;Manifest der Giovine Italia&#x201C; und &#x201E;Vom jungen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0158] überzeugen vermochten, dort schimpften sie „Bourgeois, Spiesser, Utopist“. Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche Literatur der französischen und englischen Sozialisten des beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus über- haupt nicht existieren würde, — durch die despotische Eifer- sucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland entfernt und verfehmt. Die Diktatur Marxens und das Apostel- tum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch, dass Ideenkonflikte von so ausserordentlicher prinzipieller Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in ganz bewusster Entstellung nach Deutschland gelangten ⁶⁰⁾ . Jene Polemik sans façon aber, der sogenannte „Mistgabelstil“, der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie eignete, hielt der Bewegung gerade die junge bürgerliche Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien, Russland, Frankreich und England die begeisterten Vor- kämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend in seinen Bannkreis zu ziehen. Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegel'schen Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man mit nach Paris? Heine spricht von den „Schriftstellern des heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion, und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel sind“ ⁶¹⁾ . Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirk- lichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf. Italiener behaupten, der Sammelruf „Jungdeutschland“ selbst sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische Aufsätze „Unterweisung für die Verbrüderten des jungen Italien“, „Manifest der Giovine Italia“ und „Vom jungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/158
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/158>, abgerufen am 01.05.2024.